Blech und Bits – die Zukunft der Autobauer

01.03.2022  — 

Die deutschen Autokonzerne kämpfen jeder für sich, und alle sind zu langsam – so beschreibt das „Manager-Magazin“ die Versuche der Branche, sich auf die Zukunft des Autos als rollender Computer vorzubereiten. Zwar haben die Hersteller ihr Personal für die Software-Entwicklung drastisch aufgestockt, berichtet das Magazin in seiner März-Ausgabe. Aber: „Die Welt der Bits und die der Bleche, so scheint es, sie passen nicht zusammen.“

Jürgen Müller, Executive Vice President Software Systems & Connectivity bei IAV

Was muss passieren, damit VW, Daimler und BMW nicht den Anschluss verpassen und irgendwann vom Apple Car überholt werden? Darüber haben wir mit Jürgen Müller gesprochen, Software-Chef beim technischen Entwickler IAV. Er sagt: „Die Hersteller müssen ihre Denkmuster an das Thema Software anpassen.“

Interview: Robin Kittelmann

Die Relevanz von Software nimmt im Automotive-Bereich seit Jahren stetig zu. Sind die Hersteller diesem Innovationsdruck gewachsen?

Jürgen Müller: Die Hersteller müssen ihre Denkmuster an das Thema Software anpassen und sich von perfektionistischen Ansprüchen verabschieden. In der vernetzten Welt ist es nicht mehr möglich, ein Endergebnis vollständig vorherzusagen und eine Lösung bis ins letzte Detail zu definieren. Alles ist permanent im Wandel. Bis ein Ergebnis zustande kommt, liegen bereits neue Grundvoraussetzungen vor. Man muss lernen, mit Unvollständigkeit in den eigenen Lösungen zu leben, das sind wir von Hardwarekomponenten in der Fahrzeugentwicklung bisher nicht gewohnt.

Software ist nie komplett fertig, bedarf auch nach der Markteinführung stetiger Weiterentwicklung und Optimierung. Das Festhalten an Perfektion kostet Geschwindigkeit, die vor dem Hintergrund sich verkürzender Entwicklungszeiten entscheidend ist.

Wie können die Automobilhersteller die nötige Geschwindigkeit in der Entwicklung erreichen?

Hohe und intelligent eingesetzte Automatisierungsgrade helfen dabei, die Effizienz und Geschwindigkeit zu steigern und eine schnelle Iteration zu ermöglichen. Diese Form der Prozessoptimierung allein reicht jedoch nicht aus, um dem Thema Software gerecht zu werden. Das Geschäftsmodell der Hersteller wandert ins digitale Ökosystem. Beim Thema Fahrzeug fällt oft der Begriff „Smartphone auf Rädern“ – das ist nicht ganz passend, denn bisher sind die wesentlichen Funktionen nicht mit einem Smartphone vergleichbar. Aber durch Vernetzung wird das Auto nun ebenfalls zu einem Fenster in die Online-Servicewelt der Nutzer:innen.

Strategisch genügt es nicht, bekannte Dienste in ein Fahrzeug zu integrieren. Für die Hersteller gilt es, ihre Geschäftsmodelle von Grund auf neu zu denken: weg von fahrzeuggetriebenen Entwicklungen hin zu Angeboten aus dem sogenannten Informationsraum. Die Fahrzeugthemen müssen sich dem digitalen Raum unterordnen, um eine attraktive Plattform für neue digitale Geschäftsmodelle auf dem Markt zu positionieren.

Weiterhin gilt: Je besser meine Adaptionsfähigkeit für neue Dinge und Impulse ist, umso besser wird mein Ergebnis. Und desto wettbewerbsfähiger bin ich.

Wie können die Hersteller diese Attraktivität aufbauen?

Der Umschwung kann nur durch erfolgreiches Partnering oder Zukauf von Firmen funktionieren. Es gibt Firmen, die sich im digitalen Ökosystem bereits deutlich erfolgreicher bewegen als die klassischen Hersteller, beispielsweise Amazon oder Apple. Ich bin mir sicher, dass Apple weiterhin Standards für digitale Immersion zeigen wird.

Allerdings bin ich davon überzeugt, dass die Hersteller immer noch einen großen Vorteil haben: das ist ihre starke Marke, die mit Emotionalität verbunden ist. Diese Stärke müssen sie in das digitale Ökosystem tragen. Dafür erscheint es empfehlenswert, sich statt einem Aufholprogrammen die richtigen Partner zu suchen.

Und wie kann IAV als Partner die Hersteller auf dem Weg in das digitale Ökosystem unterstützen?

Wir wollen zwischen dem Informationsraum und der physischen Welt als Verbinder agieren und eine Brücke schlagen. Als langjähriger Entwicklungspartner der Hersteller und als Tech Solution Provider können wir unsere breit gefächerte Expertise nutzen, um Lösungen vorzudenken, frühzeitig zu entwickeln, in unseren Projekten einzubringen und unseren Kunden zur Verfügung zu stellen.

Die zu schlagende Brücke basiert auf einem ganzheitlichen Ansatz, den wir „Mastering Software“ nennen. Es geht uns hierbei nicht nur darum, Software zu entwickeln, sondern um die Fähigkeit, Software zu beherrschen. „Mastering Software“ entsteht aus der Verbindung aus End-to-End Softwarearchitektur, Automotive Software-Engineering und einem Digital Lifecycle-Management.

Damit sind wir künftig in der Lage, Lösungen für vernetzte Mobilitätsangebote bereitzustellen und mehr Verantwortung zu übernehmen. So erleichtern wir den Herstellern den Sprung ins kalte Wasser und können ihnen helfen, sich etwas leichter von einem Perfektionsanspruch zu lösen, da die Verantwortung in anderen Händen liegt.

Welche Lösungen bringt IAV bereits jetzt ein?

 Ein konkretes Thema für uns ist das Automotive Cyber Defense Center (ACDC). Dabei handelt es sich um eine von uns vorgedachte Lösung für einen Cyber Security Monitor. Das System hat ganze Fahrzeugflotten und die Streckeninfrastruktur im Blick, detektiert und analysiert potenzielle Bedrohungsszenarien und kann Gegenmaßnahmen einleiten.

Ein weiteres Highlight ist eine Lösung aus dem Bereich Cloud-Engineering: Mit dem Erzmobil in Sachsen ist es uns gelungen, über eine digitale Mobilitätsplattform einen Linienbedarfsverkehr für den ländlichen Raum zu etablieren.

Zudem wird unser Augenmerk künftig auf dem Thema High Performance Vehicle Software liegen: Immer mehr Funktionalitäten im Fahrzeug werden auf Prozessoren abgebildet und es gilt, verschiedene Plattformen und Betriebssysteme zu erschließen und sie mit modernen Cyber Security Systemen zu flankieren. Mit unserer breiten Palette an Angeboten wollen wir uns als Tech Solution Provider für Software am Markt etablieren.

Wie sieht der Weg zum Software Tech Solution Provider konkret aus?

Wir können bereits heute Lösungen für Software und Toolketten anbieten, die sich im Auto bewegen, in IT-Systemen und auf mobilen Endgeräten. Auf der Fahrzeugseite sind wir schon sehr gut. Bei den Themen Connectivity und Cloud müssen aber auch wir noch nachlegen.

Wichtig für die Weiterentwicklung unseres Know-hows ist der Blick über den eigenen Tellerrand. Das Innovationstempo für den Bereich Software ist nicht europazentriert, sondern wird derzeit in den USA und in China vorgegeben. Wir müssen nicht überall die Schnellsten sein, aber ein internationaler Footprint und intensiver Austausch ist sicherlich auch ein Punkt, der uns für jüngere Mitarbeiter:innen attraktiver macht.

Wir brauchen junge und kreative Köpfe, um unser Ziel Tech Solution Provider für Software zu erreichen. Diesen jungen Talenten bieten wir bei IAV vielfältige Gestaltungsmöglichkeiten. Von ihren Ideen und Innovationen profitieren nicht nur wir, sondern auch unsere Kunden.