Rettet ein Roboter die deutsche Erdbeere?

02.09.2022  — 

Ein Roboter als Erntehelfer beim Erdbeerpflücken – daran arbeitet IAV gemeinsam mit großen Erdbeerbauern in Deutschland. Was das soll und worin die besonderen Herausforderungen liegen, erzählen Produktmanager Enrico Neumann und Fachbereichsleiter Sales Steffen Lintz.

Ein Roboter, der Erdbeeren pflücken kann – klingt interessant. Aber warum braucht die Welt sowas?

Steffen Lintz: Schon vor zwei, drei Jahren, als wir mit dem Thema anfingen, sagten uns die großen Erdbeerbauern, dass sie kaum noch Arbeitskräfte bekommen. Die Erntehelfer kamen früher aus Polen zu uns, dann aus der Ukraine oder von noch weiter östlich. Aber in diesen Ländern gab es mittlerweile bessere Arbeitsmöglichkeiten. Und in Deutschland sieht der Gesetzgeber inzwischen auch für solche Hilfskräfte Mindestlöhne vor – zum Glück.

Dadurch wird allerdings das Erdbeerpflücken teurer, und der Preis für Erdbeeren steigt deutlich. Der Standort Deutschland ist damit für die Erdbeere gefährdet. Unser Pflückroboter soll dazu beitragen, dass wir auch in Zukunft Erdbeeren aus der Region bekommen.

Können Roboter die menschlichen Erntehelfer komplett ersetzen?

Enrico Neumann: Es wird ein Zusammenspiel von Mensch und Maschine geben. Der Roboter übernimmt zunächst nur die Ernte und erste Transportaufgaben. Alles drum herum, Vorarbeiten und Nacharbeiten, werden weiterhin von Menschenhand gemacht.

Zusätzlich muss der Roboter gereinigt, kontrolliert und gewartet werden. Auch dafür werden Menschen gebraucht, und so entstehen höherwertige Arbeitsplätze. Es geht also nicht darum, Menschen zu ersetzen, sondern fehlende Arbeitskräfte aufzufüllen.

Bleiben wir mal beim Pflücken – wie schneidet denn der Roboter im Vergleich zum Menschen ab?

Steffen Lintz: Die menschliche Hand, im Zusammenspiel mit dem Auge, ist ein echtes Wundergerät. Pflücker-Profis sehen mit einem Blick, welche Beeren reif sind, erkennen Krankheiten und Fehlstellen, streifen Blätter zur Seite, pflücken mehrere Erdbeeren gleichzeitig und legen sie danach so ins Körbchen, dass es für den Verkauf auch noch schön aussieht. Das schafft unser Roboter nicht.

Enrico Neumann: Noch nicht.

Er pflückt derzeit auch noch langsamer als Menschen. Zum Ausgleich kann der Roboter über den ganzen Tag pflücken – mit Ausnahme der Mittagszeit. Da sind die Erdbeeren schlicht zu empfindlich für die menschliche Hand, wie für den Roboter. Wir planen aktuell zwanzig Stunden Einsatzzeit am Tag. Und da arbeitet der Roboter kontinuierlich, mit immer der gleichen Qualität

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Was sind die technischen Herausforderungen, damit der Roboter das meistert, was der Mensch so selbstverständlich macht?

Steffen Lintz: Erstmal die Erdbeere und ihren Reifegrad unter verschiedensten Lichtbedingungen zu erkennen. Wenn wir zwanzig Stunden am Tag ernten, haben wir zwanzig Stunden unterschiedliches Tageslicht. Es gibt Tage mit direkter Sonneneinstrahlung, und es gibt Bewölkung mit eher diffusem Licht. Zwischen Nord- und Süddeutschland gibt es Unterschiede, plötzlich hat man Saharastaub, und das Licht ist eingefärbt. Das macht die Computer Vision, also das Zusammenspiel von Kamera, Cloud-Computing und Künstlicher Intelligenz, sehr anspruchsvoll.

Dann das Pflücken: Die menschliche Hand hat unglaublich viele Freiheitsgrade und Möglichkeiten. Die können wir dem Roboter nicht geben, sonst würde er viel zu teuer. Er ist also eingeschränkt, was die Bewegungsfähigkeit angeht. Das müssen wir mit geschickter Routenplanung ausgleichen, um trotzdem gut an die Erdbeeren ranzukommen und sie vorsichtig und ohne Beschädigung zu pflücken.

Enrico Neumann: Der Roboter muss sich außerdem selbstständig und sicher bewegen und zurechtfinden können. Er fährt circa hundertzwanzig Meter in einer Reihe und muss dabei seinen Arm immer wieder an die Erdbeeren heranführen. Um das zu üben, haben wir ein fotorealistisches Simulationsmodell aufgebaut, mit dem wir komplexe Pflücksituationen außerhalb des Feldes nachstellen können.

Und schließlich muss der Roboter die gepflückten Erdbeeren ordentlich transportieren und abliefern. Aus Gesprächen mit unseren zukünftigen Kunden wissen wir, dass in einer Reihe in Spitzenzeiten bis zu sechzig Kilogramm zusammenkommen können. Das sind hundertzwanzig Schälchen – so viele kann der Roboter nicht mitnehmen, die müssen ihm zwischendurch abgenommen werden.

IAV arbeitet seit gut zwei Jahren am Ernteroboter. Was habt ihr in dieser Zeit gelernt?

Steffen Lintz: Wir haben unsere Fehler aus der vorigen Erntephase sorgfältig analysiert und untersucht, warum der Roboter einige Erdbeeren erwischt hat und andere nicht. Daraus ist eine Weiterentwicklung des Arms entstanden und eine neue Greifstrategie.

Unser erstes Ziel war es, überhaupt eine Erdbeere zu pflücken. Jetzt wiederholt der Roboter sicher mehrfach den Zyklus aus Erkennen, Positionieren, Pflücken und Ablegen. In diesem Sommer haben wir mehrere Systeme bei unserem Pilotkunden parallel im Dauereinsatz, damit wir die Tages- und Jahreszeiten mitbekommen und über die gesamte Saison erproben und lernen können.

Enrico Neumann: Wir haben auch die Kameras und die Computer Vision weiterentwickelt. Mit jeder Frucht haben wir neue Bilder, mit jeder Tages- und Lichtsituation haben wir neue Erkenntnisse und können unsere Algorithmen perfektionieren.

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Der Greifarm des Roboters ist eine eigene Entwicklung von IAV. Warum habt ihr keines der vorhandenen Modelle von Roboterarmen genommen?

Enrico Neumann: Wir haben besondere Anforderungen, die wir an den Arm stellen: Er ist draußen unterwegs, muss spritzwassergeschützt sein und mit unterschiedlicher Luftfeuchtigkeit klarkommen. Und die Regelung ist sehr komplex, da wollen wir jedes Detail an dem Arm selbst steuern können und nicht auf die Software anderer angewiesen sein. Das Zusammenspiel aus Schnelligkeit, Leichtigkeit, Robustheit, das wir für viele tausend Pflückvorgänge brauchen, gibt es nicht von der Stange.

"Wir fahren aktuell einen Dauertest mit über zwei Million absolvierten Schnitten bisher ohne größere Vorkommnisse."

Bei welcher Version des Arms seid ihr jetzt?

Enrico Neumann: Wir arbeiten mit der dritten Evolutionsstufe. Wobei jeder Schritt eine Auswahl aus vielen Ideen war, von denen es die besten in den Hardwareversuch geschafft haben.

Zurzeit testen wir die Schere – das ist das Bauteil, das am meisten bewegt wird. Wir fahren aktuell einen Dauertest mit über zwei Million absolvierten Schnitten bisher ohne größere Vorkommnisse.

Das sind aber viele Erdbeeren.

Enrico Neumann: Genau. Deshalb haben wir für den Test ein anderes Material gesucht, das automatisch zugeführt werden kann und für die Scherenmechanik die gleichen Bedingungen erzeugt wie ein echter Erdbeerstängel. Dazu haben wir die Schnittkraft für verschiedene Erdbeerstängel in verschiedenen Reifegraden analysiert und zehn, zwanzig verschiedene Materialien untersucht, um ein gleiches Schnittkraftverhalten darzustellen.

Und was ist es geworden?

Steffen Lintz: Das bleibt unser Geheimnis. Nur so viel: Ein Kunststoff ist es nicht, und auch keine echte Erdbeere.

Enrico Neumann: Wir waren vom Ergebnis selbst überrascht. Aber wir haben das perfekte Material gefunden, und damit laufen jetzt die Versuche.

Wie muss das Erdbeerfeld aussehen, damit der Roboter dort arbeiten kann?

Steffen Lintz: Wir nutzen einen Trend, der auch ohne uns auf vielen Erdbeerfeldern Einzug hält: die Stellage. Das sind Pflanzenkästen, die auf Stützen von etwa einem Meter Höhe befestigt sind und aus denen die Erdbeeren seitlich heraushängen. Das Ganze unter einem Foliendach, das vor Regen, Wind und Vogelfraß schützt.

Wir können dann mit dem Erdbeerbauern zusammen die Anlage „robo-ready“ machen, also für den Einsatz des Roboters optimieren. Das ist immer ein gemeinsamer Entwicklungsprozess. Die technische Innovation geschieht also nicht nur bei uns, sondern auch beim Bauern.

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Wie klappt das bisher mit den Pilotkunden?

Steffen Lintz: Ich bin sehr positiv überrascht und begeistert über die Offenheit und die Technologieaffinität der großen Erdbeerbauern, mit denen wir zusammenarbeiten. Sie lassen sich voll und ganz auf uns ein, und sie teilen ihre Geheimnisse mit uns – denn jede Erdbeersorte, jede Region ist anders und braucht eigene Lösungen. Wir finden bei den Bauern auch einen hohen Drang zur Digitalisierung und unfassbar viele Innovationen, die teilweise innerhalb von Wochen erprobt und umgesetzt werden. Sie haben schließlich die Wertschöpfung und viele Ressourcen in der Hand.

Die Bauern unterstützen uns und lassen uns unser Testfeld an ihrem Standort aufbauen. Wir arbeiten im ersten Schritt mit zwei Pilotkunden zusammen, danach mit weiteren Partnern, regional verteilt und mit einem unterschiedlichen Reifegrad in der Digitalisierung. So lernen wir, uns auf unterschiedliche Licht-, Boden- und Wasserverhältnisse einzustellen – und eben auch auf verschiedene Bedingungen auf Kundenseite.

Das ist ein hoher Grad der Zusammenarbeit und macht sehr viel Freude.

Wie haben sich Corona und der Ukraine-Krieg auf eure Arbeit ausgewirkt?

Steffen Lintz: Die Pandemie war für alle von uns richtig schwierig, das hat auch unsere Arbeit betroffen. Und der schreckliche Krieg macht uns fassungslos.

Für unseren Erdbeerroboter sind das zwei Beschleuniger. Schon wegen Corona konnten weniger Erdbeerpflücker nach Deutschland kommen. Durch den Krieg fehlen hier jetzt mehr als 150.000 ukrainische Pflücker. Wir merken in Gesprächen mit den Erdbeerbauern, wie sehr die Notwendigkeit für unsere Lösung gestiegen ist – die wollen am liebsten sofort in den Großeinsatz mit uns gehen.

Enrico Neumann: Gleichzeitig haben wir Zulieferprobleme. Komponenten kommen nicht rechtzeitig, weil Kabel oder Motoren fehlen. Das betrifft uns jetzt gerade ganz massiv und belastet unseren Zeitplan, der ohnehin schon straff und sportlich ist.

Außerdem drücken die gestiegenen Kosten für Komponenten unsere errechnete Rentabilität des Systems. Die Gespräche dazu mit den Bauern stehen allerdings noch aus.

IAV bringt viel Erfahrung aus der Autoentwicklung mit. Wie nützlich ist diese Kompetenz für die Arbeit am Erdbeerroboter?

Steffen Lintz: Wir sind es gewohnt, Gesamtsysteme auf die Straße zu bringen, die vom Gesetzgeber freigegeben werden und in die sich Menschen hineintrauen, für viele zehntausend Kilometer und über viele Jahre. Mit dieser Genauigkeit gehen wir auch an dieses Thema heran: Die Hard- und Software des Erdbeerroboters wird mit der gleichen Sorgfalt und dem gleichen Anspruch an funktionale Sicherheit erstellt. Da können wir unser Methodenwissen aus der Automobilentwicklung nutzen.

Enrico Neumann: Wir arbeiten schon lange mit Künstlicher Intelligenz und haben große Expertise in Mechatronik und der Bedienbarkeit von Maschinen. Schon vor Jahren haben wir autonom fahrende Autos entwickelt, da sollten wir doch auch durch eine Erdbeerreihe fahren können.

Steffen Lintz: Jetzt muss Enrico nur schauen, dass das am Ende kein Auto wird, sondern ein Erdbeerpflückroboter.

Bisher haben wir nur über Erdbeeren gesprochen. Ist diese Technik auch für andere Früchte oder Gemüse denkbar, Spargel zum Beispiel?

Enrico Neumann: Spargel ist eine völlig andere Art der Ernte. Aber andere Früchte und Gemüse definitiv. Wir haben schon ein paar Früchte identifiziert, die sich für den Einsatz von Robotik eignen. Das sieht sehr erfolgversprechend aus und gibt uns viele Möglichkeiten, unser Angebot weiterzuentwickeln.

Übrigens…

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…sind Erdbeeren aus botanischer Sicht gar keine Beeren, sondern „Scheinfrüchte“ – die eigentlichen Früchte sind die kleinen gelben Nüsschen, die darauf wachsen.

…isst jeder Mensch in Deutschland durchschnittlich dreieinhalb Kilo Erdbeeren im Jahr.

…stammen die meisten der hier angebotenen Erdbeeren aus Deutschland. Wegen der großen Nachfrage werden aber auch viele Früchte importiert, vor allem aus Spanien.

…werden in Deutschland im Freiland auf rund 10.000 Hektar jährlich fast 100.000 Tonnen Erdbeeren geerntet (2021).

…werden immer mehr Erdbeeren in begehbaren Folientunneln oder im Gewächshaus angebaut (2021: auf rund 1.800 Hektar); in diesem geschützten Anbau sind die Erträge etwa doppelt so hoch wie im Freiland.

Mit High-Tech Lösungen für die Agrar-Branche nimmt IAV seine gesellschaftliche Verantwortung ernst!

Das Thema Agrar-Systeme ist bei IAV ein Fokusthema. Wir sehen die Herausforderungen der Agrar-Branche und wollen mit unseren Lösungen dazu beitragen, dass die Ernährung der Weltbevölkerung verbessert werden kann. Ernterobotik ist dabei ein wichtiger Bereich auf unserer Strategie-Roadmap.

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