Jürgen Müller im Interview

Was ist der Wert von Mobilität?

02.05.2023  — 

Die klassische Autoindustrie und die digitale Welt funktionieren nach unterschiedlichen, manchmal gegensätzlichen Prinzipien. Jürgen Müller, Softwarechef beim Entwicklungsdienstleister IAV, sieht sich deshalb als Übersetzer und Brückenbauer zwischen den Systemen. Im Interview beschreibt er, was Autobauer von der IT-Branche lernen können und worauf es ankommt, um aus Bits und Bytes neue Geschäftsmodelle machen zu können.

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Jürgen Müller, Softwarechef bei IAV, sieht sich als Übersetzer und Brückenbauer zwischen Autoindustrie und IT-Welt.

Digitale Dienste prägen schon heute das Auto und werden immer wichtiger. Was bedeutet das für die OEMs?

Das Auto ist ein attraktiver Raum für unterschiedliche Unternehmen: Sie haben dort nahezu ungeteilte Aufmerksamkeit und können die Zeit im Fahrzeug mit ihren Angeboten füllen. Google bietet mit seinem Betriebssystem Android und Diensten wie Google Automotive Services – abgekürzt sinnigerweise „GAS“ – Infotainment im Auto, Apple bringt mit CarPlay sein HMI, seine Benutzeroberfläche, mit, und auch Amazon sucht den Weg ins Fahrzeug. In der direkten Konkurrenz wird es schwer für die OEMs, gegen diese Player zu bestehen. Denkbar ist, dass es zu hybriden Lösungen kommen wird, in denen Hersteller den Tech-Firmen bestimmte Funktionen überlassen, aber ihre markenprägenden Features selbst kontrollieren – das sind in einem Luxusfahrzeug sicher andere als im Massenmarkt.

Was kann die klassische Autoindustrie von der IT-Branche lernen?

Die Hersteller müssen ihr zentrales Produkt – das Auto – als ein softwaredefiniertes Produkt begreifen und behandeln. Darauf müssen sie ihre ganze Welt, also auch ihre Infrastruktur, abstimmen. Das betrifft zum Beispiel Update- und Upgrade-Fähigkeiten, die in der IT-Welt zum „Client Management“ gehören. Die Industrie muss mit dem Charakter der Unfertigkeit umgehen und ihre Funktionen darauf ausrichten, dass Funktionen weiterentwickelt werden können, dass man sie verändern kann – und dass Veränderungen außerhalb des Produkts nicht zu Ausfällen führen.

Dazu gehört dann auch das Thema Cybersecurity.

Genau. In der IT-Entwicklung ist Cybersecurity das Zentrum jedes Systems, sie wird im Design vom Ursprung der Entwicklung an mitgedacht. Das ist aus meiner Sicht der nächste große Schritt, den die Autoindustrie von der IT lernen kann. Wir bei IAV betrachten diesen Bereich seit Jahren als Schwerpunkt und entwickeln ihn immer weiter – mit unserem Automotive Cyber Defence Center, kurz ACDC, als Herzstück.

Welche anderen IT-Trends werden für die Autoindustrie wichtig?

Mit Standards zu arbeiten. Das ist eine wesentliche Voraussetzung, um schneller Neues entwickeln zu können. In der IT bilden sich häufig Quasi-Standards durch Verbreitung von Anwendungen, die oft als Open-Source-Modell ständig weiter verbessert werden. So war es etwa bei Docker oder aktuell bei Kubernetes, Systemen für sogenannte Container-Infrastrukturen. Nicht alles im Auto lässt sich so angehen, aber ich gehe davon aus, dass wir auch bei der Fahrzeugentwicklung mehr und mehr solche Standards sehen werden. Hersteller können unsere Expertise nutzen, um neue Technologien in den Blick zu nehmen. Als Entwickler haben wir da naturgemäß ein sehr breites Portfolio und sind nicht auf bestimmte Technologien festgelegt.

Mit der Digitalisierung steigt die Menge der Daten rund ums Auto. Die Industrie hat bereits eine europäische Plattform für den kontrollierten Austausch von Daten geschaffen, Catena-X. Wie entscheidend sind Daten für den künftigen Geschäftserfolg?

Die interessante Frage ist: Welche erfolgreichen Geschäftsmodelle auf Basis von Daten gibt es denn bisher? Personalisierte Werbung, genaue Karten – aber sonst? Irgendwie müssen sich die Kosten für das Sammeln und Auswerten der Daten rechnen.

Es gibt ja auch mögliche Nutzen für die Allgemeinheit: Zum Beispiel kann die Vorhersagequalität von Starkregenereignissen verbessert werden, wenn die Daten aus Regensensoren in Autos genutzt werden. Das hat eine Studie von IAV gezeigt. Wenn also alle Hersteller die Daten ihrer Regensensoren zur Verfügung stellen würden …

… dann müsste auch jemand dafür bezahlen. Große Datenmengen kosten viel Geld. Die Datenflut, die moderne Systeme produzieren, einfach bedingungslos irgendwo hinzulegen und dann irgendwann irgendwas damit zu machen, werden wir uns in absehbarer Zeit nicht leisten können. Die Herausforderung ist deshalb, die relevanten Daten zu sammeln und die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen. Damit können sich Unternehmen differenzieren und eigene Angebote entwickeln, zum Beispiel eben eine Starkregenvorhersage. Der entscheidende Punkt ist, die Frage der Daten vom Ende der Monetarisierung her zu denken: Was ist eigentlich das Geschäftsmodell, für das man diese Daten nutzen kann?

IAV setzt derzeit bei Software stark auf Services. Was ist darunter zu verstehen?

Services sind eine Art Brücke zwischen der digitalen und der physischen Welt. Wir bieten zum Beispiel Analysedienste und Services für elektrische Fahrzeugflotten an, etwa fürs Lademanagement. Oder eben unser Cybersecurity-Zentrum. Solche Services müssen für verschiedene Kunden, große und kleine Flotten und unterschiedliche IT-Systeme funktionieren. Das bedeutet für uns eine hohe Verpflichtung, etwa in Sachen Zuverlässigkeit. Das Besondere: Viele dieser Services entwickeln wir mit einem Kunden gemeinsam. So bekommt der Kunde eine maßgeschneiderte Lösung für sein Problem und den Wettbewerbsvorteil, als Erster damit arbeiten zu können. Wir bekommen neue Expertise, die wir für weitere Kunden nutzen können – eine Win-win-Situation. Und von den Weiterentwicklungen können dann alle profitieren, neue und etablierte Kunden.

Wird das Auto durch die Digitalisierung immer mehr zum viel zitierten „Smartphone auf Rädern“?

Den Ausdruck mag ich nicht besonders. Ein Auto ist kein Telefon, es soll Menschen und Dinge von A nach B bringen, das ist seine Grundeigenschaft. Dazu braucht es funktionale Sicherheit und muss gesetzliche Anforderungen erfüllen. Das wird auch in Zukunft so sein. Ich sehe das Auto eher als eine technische Plattform mit einem Backend-Anteil, einer Standleitung in die Cloud. Aus diesem Wechselspiel ergeben sich neue Möglichkeiten für Mobilitätskonzepte. Darin ist das Auto ein vernetzter Systembaustein. Die Herausforderung: Es gibt heute noch kein gutes Modell zur Berechnung des Werts von Mobilität. Manchmal ist es wichtig, möglichst schnell ans Ziel zu kommen, manchmal spielt die Zeit eine geringere Rolle, und es zählt mehr die Qualität – Bequemlichkeit oder eine schöne Strecke zum Beispiel.

Dazu passt, dass Hersteller neuerdings „emotionale“ Features anbieten, etwa eine Autofarbe, die sich der Stimmung des Fahrers anpasst

Es liegt ja in unserer Natur, Dinge zu vermenschlichen. Welcher Stil dabei ankommt, unterscheidet sich in den Regionen der Welt erheblich, da wird es auf eine hohe Flexibilität zur Anpassung solcher Features ankommen.

Kann so etwas auch im nüchternen Deutschland funktionieren?

Ich denke schon. Wenn etwa die Autoscheiben als Bildschirme genutzt werden, gibt das neue Möglichkeiten für die Gestaltung des Innenraums, er wird wohnlicher. Das kann einen echten Mehrwert schaffen und die Qualität von Mobilität erhöhen. Und dann zahlen Kunden auch dafür.