Bessere automatisierte Fahrfunktionen durch Sensoren im Scheinwerfer
Spätestens für automatisierte Fahrfunktionen auf SAE-Level 4 und 5 können Fahrzeuge mit rund 50 Sensoren ausgestattet sein. Da stellt sich die Frage: Wo ist der beste Platz, um die Sensoren unterzubringen? Gemeinsam mit der ZKW Group untersucht IAV im Projekt „Dragonfly“, wie gut sich Front- und Rückscheinwerfer dafür eignen. Erste Ergebnisse zeigen bereits: Sie sind herkömmlichen Aufbauten in verschiedenen Situationen deutlich überlegen.
In der Entwicklung ist die Natur unser Vorbild. Libellen zum Beispiel entgeht nichts. Tausende winziger Augen erfassen blitzschnell jede Bewegung, außerdem verfügen die Insekten über eine 360-Grad-Rundumsicht. Kein Wunder also, dass IAV und die ZKW Group ihr gemeinsames Projekt „Dragonfly“ (Libelle) nennen – denn es geht darum, autonom fahrende Fahrzeuge mit einer Sensorik auszustatten, die ebenfalls alle relevanten Signale aus ihrer Umwelt wahrnehmen kann.
Dafür sind aber jede Menge einzelner Sensorsysteme nötig. Spätestens mit der Einführung hochautomatisierter Fahrfunktionen auf SAE-Level 4 und 5 wird ihre Zahl nochmals deutlich steigen, darunter vor allem Kameras sowie Radar- und Lidar- Sensoren. Manche Unternehmen – vor allem in den USA – setzen auf Dachaufbauten, um die komplexe Technik unterzubringen. Der Vorteil: Die Aufbauten lassen sich ohne allzu großen Aufwand auf andere Fahrzeugplattformen übertragen. Allerdings stören sie die Optik, verschlechtern den Luftwiderstand der Autos und schränken die Nutzung von Parkhäusern ein.
Die smarten Ecken des Fahrzeuges: Schutz vor Schmutz und Beschädigungen
IAV und ZKW setzen darum auf eine andere Lösung: Die beiden Unternehmen wollen die Sensorik und die zugehörigen Auswerte-Algorithmen in den „smarten Ecken“ der Fahrzeuge unterbringen. Gemeint sind damit die Front- und Rückscheinwerfer. „Sie bieten uns einige Vorteile: Die Sensoren sind relativ gut vor Beschädigungen geschützt und auch vor Verschmutzung – beispielsweise mit Reinigungssystemen, Lotusblumen- Effekt und Antifog-Beschichtung. Sogar das Thermomanagement ist bereits vorhanden und auch die Schnittstellen zum Fahrzeug lassen sich gut unterbringen“, sagt Carsten Simon, der bei IAV das Team Perception & Concepts leitet.
Für das Dragonfly-Projekt steuert ZKW die Scheinwerfer und die darin integrierte Sensorik bei. IAV baut das Versuchsfahrzeug auf und liefert die Algorithmen für HMI und das autonome Fahren. Auf diesem Gebiet verfügt das Unternehmen über langjährige Erfahrungen, etwa aus dem Projekt Symbioz für Renault (Autobahnchauffeur) und dem Projekt HEAT (Fahren auf SAE-Level 4 im urbanen Umfeld). Insgesamt haben IAV-Versuchsfahrzeuge bereits mehrere Hunderttausend Kilometer im autonomen Fahrmodus zurückgelegt und wertvolle Erkenntnisse geliefert.
Bei ihren Versuchen haben die Ingenieure verschiedene Szenarien im Blick: erstens einen „Highway Chauffeur“ für die Autobahn, der nach vorne und hinten sehen sowie selbstständig die Spur wechseln kann. Zweitens einen Assistenten für Kreuzungen oder die Ausfahrt aus Parkhäusern, der gut um die Ecke sehen kann. Und drittens eine Lösung, die die künftigen Anforderungen von ENCAP 2024 erfüllt und beispielsweise bei der Ausfahrt aus einer Parklücke einen herannahenden Fahrradfahrer erkennt.
Gute Sicht auf den seitlichen Verkehr
Seit Mitte 2019 beweist ein Versuchsfahrzeug, dass das Dragonfly-Konzept in der Praxis bereits bestens funktioniert. IAV und ZKW haben die Frontscheinwerfer eines Serienfahrzeugs mit vier Kameras ausgestattet – jeweils zwei für die Sicht nach vorne und zwei weitere, die den seitlichen Verkehr erfassen. „Die Sensorik schlägt sich auf der Autobahn und im Stadtverkehr sehr gut“, berichtet Simon. „Die Kameras in der Ecke ermöglichen an Kreuzungen zum Beispiel eine gute Sicht mit hoher Sichtweite auf kreuzende Fahrzeuge, die von rechts oder links kommen – sie ist der Sicht eines menschlichen Fahrers insbesondere an unübersichtlichen Kreuzungen deutlich überlegen.“
Und nicht nur das: Auch im Vergleich zum heutigen Standard-Setup (eine Kamera in der Mitte der Windschutzscheibe sowie Radar- und Lidar-Sensoren sowie Front- und Umgebungskameras im Kühlergrill) schneidet der neue Ansatz besser ab – auch wegen des besseren Schutzes vor Parkremplern und anderen Umwelteinflüssen. „Darum ist es recht wahrscheinlich, dass zahlreiche Sensoren für Fahrzeuge auf SAE-Level 4 und 5 in Zukunft tatsächlich in den Front- und Rückscheinwerfern untergebracht werden. Für Fahrerassistenz SAE Level 2 ist sogar ein smartes Modul aus Sensorik und Funktion als Komplettpaket für die Integration in Scheinwerfer denkbar“, so Simon.
»Die Sensorik schlägt sich auf der Autobahn und im Stadtverkehr sehr gut.«
— Teamleiter Perception & Concepts bei IAV