Der Zeit um fünf Sekunden voraus

Menschen und ihr Verhalten sind gelegentlich unberechenbar. Das kann vor allem im Straßenverkehr zu unerwarteten und brenzligen Situationen führen. Der Blick in die allernächste Zukunft könnte dies verhindern. Dafür braucht es weder eine Glaskugel noch das dritte Auge. Kameras, Algorithmen und neuronale Netzwerke sind die Zutaten, um für mehr Sicherheit im Straßen­verkehr zu sorgen.

Endlich ist der Parkplatz am Straßenrand gefunden, noch kurz aufs Handy geschaut und schnell raus aus dem Auto. Als die Tür geöffnet wird, kracht fast ein Radfahrer
ins Fahrzeug. Viele kennen Schrecksekunden wie diese: Beinahe hätte eine kleine Unaufmerksamkeit einen Unfall ausgelöst.

Doch was wäre, wenn das Auto potenziell gefährliche Situationen frühzeitig erkennen und die Verkehrsteilnehmer:innen warnen könnte? Ein Forschungsprojekt von IAV beschäftigt sich mit einer auf neuronalen Netzen basierenden Technologie, die Situationen dieser Art verhindern kann: Optical Flow, oder optischer Fluss, erlaubt einen Blick in die Zukunft.

Unser Gehirn ist der Computer, der unsere Bewegungen berechnet

Aktuell ermöglicht Optical Flow einen kleinen Zeitsprung von fünf Sekunden in die Zukunft. Nicht genug für Warda Khan, Technical Consultant für Künstliche Intelligenz bei Software-Lösungen bei IAV: „20 Sekunden wären ideal. Damit bliebe ausreichend Zeit, Entscheidungen für eine Handlung im Verkehr zu ändern.“ Doch so weit ist die Forschung noch nicht. Deshalb sucht Khan nach Investoren, die die IAV-Forschung unterstützen – oder Pilotkunden, um das Verfahren zur Serienreife zu bringen.

Doch was ist Optical Flow? Und wie kann er helfen, den Straßenverkehr sicherer zu machen? Zunächst ist Optical Flow eine tägliche Rechenleistung unseres Gehirns, die es ermöglicht, dass wir uns zielgerichtet bewegen. Bei jeder Bewegung entsteht auf der Netzhaut des Auges ein Bild unserer Umgebung, das relativ zu unseren Bewegungen ist. Diese Bewegungsmuster – der Optical Flow – innerhalb unseres Sehfelds helfen unserem Gehirn, Folgendes zu berechnen: Bewege ich mich, oder bewegen sich die Objekte um mich herum? Welche Entfernung existiert zwischen den Objekten und mir, und wann erreiche ich sie? Wie vermeide ich einen Zusammenstoß?

Die Abbilder der Objekte bewegen sich dabei in unterschiedlicher Geschwindigkeit über die Netzhaut. Durch Optical Flow sind wir in der Lage, Kurskorrekturen vorzunehmen – und Hindernissen auszuweichen. Im Straßenverkehr bedeutet dies, dass Menschen Bewegungen anderer Verkehrsteilnehmer:innen aus den Augenwinkeln erkennen und bei der Entscheidung des eigenen Bewegungsverlaufs unbewusst berücksichtigen.

Diese Rechenleistung lässt sich simulieren und übertragen, um zum Beispiel autonom fahrende Autos zu navigieren und um die Bewegungsbahn von Objekten außerhalb des Fahrzeugs zu verstehen. Der optische Fluss trägt die zeitabhän­gige Information zusammen mit der Präsenz eines Objekts. Derzeit basiert die IAV-Lösung auf Kameraaufnahmen sowohl von innerhalb als auch von außerhalb des Fahrzeugs, sodass sie leicht und ohne Mehrkosten in das System integriert werden kann.

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Kameras erkennen Handlungsabsicht in Echtzeit

Die Grundidee für das Optical-Flow-Projekt von IAV ist, in Echtzeit zu verfolgen, worauf Fahrende ihre Aufmerksamkeit richten. „Wir kombinieren diese Informationen mit von Kameras aufge­nommenen Bildern der Fahrzeugumgebung und GPS-Daten. So lässt sich erkennen, ob die Person am Steuer die Absicht hat, nach rechts oder links zu fahren, oder ob sie geradeaus fahren will“, erklärt Khan. „Wenn sie im Begriff
ist, eine ungünstige Entscheidung zu treffen, könnten wir ein Warnsignal geben – zum Beispiel wenn sie nach links steuert, wo sie mit dem Gegenverkehr zusammenstoßen würde.“

Die Grundlage dieser Lösung ist die Echtzeit-Blickabschätzung der Fahrerin bzw. des Fahrers. Ein neuronales Netzwerk ist anhand festgelegter Orientierungspunkte im Auge darauf trainiert, zu erkennen, ob die gefilmte Person nach unten, nach links, nach rechts oder nach oben schaut. Die Integration dieser Informationen in ein Netzwerk zur Vorhersage von Absichten ergibt eine Wahrscheinlichkeit dafür, wohin sich der Augapfel der Person in den nächsten fünf Sekunden wahrscheinlich bewegen wird.

„Wenn wir beide Informationen kombinieren, erhalten wir am Ende die Richtung der Geste“, schlussfolgert Khan. Die wiederum verrät die Absicht der Person am Steuer, die vor falschen Entscheidungen gewarnt werden kann. Ein auf dieser Methode basierendes Fahrerassistenz­system kann viele potenzielle Unfälle, die auf menschliches Versagen zurückzu­führen sind, verhindern.