Digitalisierung um jeden Preis?

Vorausschauende Instandhaltung von Fahrzeugen: Chance und Herausforderung zugleich

Auf den ersten Blick scheint die Sache klar: Predictive Maintenance wird seit fast 15 Jahren als eine Technologie diskutiert, von der alle Kunden und Unternehmen im automobilen Umfeld profitieren. Leider lässt sich diese Hypothese in unserer gelebten Mobilität nicht leicht belegen: Selbst aktuelle Pkw profitieren wenig bis gar nicht von dieser Technologie, und das, obwohl in dem gleichen Zeitraum andere Branchen wie zum Beispiel Flugzeugturbinenhersteller diese Lösung fast flächendeckend einführten. Die Ursachen hierfür sowie Strategien für eine erfolgreiche Nutzung von Predictive Maintenance untersucht Consulting4Drive, die Management- und Innovationsberatung der IAV-Gruppe, in verschiedenen Projekten und Forschungsvorhaben.

Predictive Maintenance ist der bislang vielversprechendste Schritt in der Entwicklung von Instandhaltungsstrategien. Seine Vorläufer sind die reaktive Instandhaltung in den 90erJahren, die präventive Instandhaltung ab der Jahrtausendwende und die zustandsbasierte Instandhaltung, die seit 2010 eingesetzt wird. Heute wird nicht nur der Zustand von Fahrzeugkomponenten überwacht – vielmehr wird aus den Sensormesswerten auch die Wahrscheinlichkeit für einen bevorstehenden Ausfall berechnet und gegebenenfalls rechtzeitig ein Werkstattbesuch empfohlen. Der nicht mehr ganz neue Ansatz verspricht, Systemausfälle weitgehend zu vermeiden. Bei großen Generatoren, Maschinen und Nutzfahrzeugen hat er sich bereits bewährt und ist dort auch Stand der Technik. Da scheint es nur logisch zu sein, kleinere Fahrzeuge ebenfalls vorausschauend instand zu halten – zumal auch die veränderten Marktanforderungen dafür sprechen und die fortschreitende Digitalisierung neue Chancen bietet: Der Fokus der Verbraucher geht weg vom Besitz eines Fahrzeugs und verlagert sich hin zu Mobilitätsdienstleistungen. Mit anderen Worten: Die Hardware steht weniger im Mittelpunkt beim Endkunden – wichtiger sind die Verfügbarkeit und das Nutzenversprechen eines Fahrzeugs.

Darum muss Zero Downtime das Ziel der Hersteller sein, und zwar im Sinne einer jederzeit zur Verfügung stehenden Mobilität. So lassen sich Personen- und Tonnenkilometer pro Zeit maximieren. Predictive Maintenance ist nur ein möglicher Weg, dieses Ziel zu erreichen.

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Business-Case: Kosten-NutzenAnalyse

Aber wie sieht die Kosten-Nutzen-Analyse aus? In manchen Anwendungsfällen überwiegen klar die Vorteile: Nutzfahrzeuge müssen bestmöglich ausgelastet sein, weshalb die Mehrkosten für die vorausschauende Instandhaltung, und somit eine Verhinderung ungeplanter Stillstände, hier kaum eine Rolle spielen. Weniger offensichtlich ist die Lage bei privat genutzten Fahrzeugen, weil ein zeitweiliger Ausfall nicht sofort zu großen finanziellen Einbußen führt. Oder bei Pkw-Flotten, die die Fahrzeuge vor dem Eintritt von Schäden nach kurzer Nutzung wieder in den Gebrauchtwagenmarkt entlassen (zum Beispiel: 25.000 Kilometer bei den deutschen Mietwagenanbietern). Hier muss genau abgewägt werden, ob es einen Business-Case für Predictive Maintenance gibt. Hinzu kommt: Das Aftersales ist eine zentrale Stütze des heutigen Geschäftsmodells der Fahrzeughersteller, basierend auf Verkauf, Wartung und Reparatur. Diese wird nun auch Bestandteil der digitalen Transformation.
Allerdings lassen sich bei Design und Dimensionierung dank Predictive Maintenance Kosten sparen: Heute sind viele Komponenten überdimensioniert (Stichwort „Over-Engineering“) und auf maximale Robustheit getrimmt. Die meisten Kunden profitierten aber nicht davon, weil sie die Fahrzeuge nie an ihre Belastungsgrenzen bringen. Anwendungsoptimierte Bauteile wären kostengünstiger, in vielen Fällen auch leichter und in den meisten Fällen genauso zuverlässig wie bisher. Bei dem restlichen Anteil der Kunden ließen sich durch Predictive Maintenance Probleme so frühzeitig erkennen, dass die Betroffenen dank einer rechtzeitigen Instandsetzung kaum Einbußen bei der Verfügbarkeit hinnehmen müssten. Das Wertversprechen gegenüber dem Kunden kann sichergestellt werden.
„Predictive Maintenance ist eine Beschreibung für eine Technologie zur Ermöglichung von Zero Downtime und keine strategische Initiative. Es ist entscheidend, dass die vorausschauende Instandhaltung nicht nur von einer technischen Möglichkeit zur Überwachung getrieben wird, wie wir es häufig in der technischen Entwicklung beobachten. Sondern wir erleben die strategische Fokussierung auf das Angebot von Services statt Produkten und Komponenten. Das Stichwort ,Mobility as a Service‘ ist in aller Munde und Predictive Maintenance wird dafür ein entscheidender Enabler und Wettbewerbsvorteil bei allen Mobilitätsanbietern, von IAV über Zulieferer bis hin zu den OEMs, sein“, berichtet Dr. Sebastian Kahlbau von Consulting4Drive (C4D). Martin Schnackig, ebenfalls Berater bei C4D, betont den Bedarf klarer Geschäftsmodelle mit hohem Realisierungspotenzial, da bestehende Technik oft für den Start schon heute ausreichend vorhanden ist. „Zudem sollten alle Entscheidungen auf präzisen Modellen beruhen, die Kosten und Nutzen der neuen Technik genau gegenüberstellen und den Mehrwert für alle Beteiligten explizit aufzeigen.“ C4D verfügt aufgrund seiner langjährigen Projekterfahrung zusammen mit IAV über die Methoden und Netzwerke, auf deren Basis sich Predictive Maintenance objektiv wirtschaftlich bewerten lässt.

Technische Umsetzung

Gemeinsam mit IAV können die C4D-Experten auch in der Breite bei der technischen Umsetzung beraten. „Hier geht es beispielsweise darum, ob man für Predictive Maintenance zusätzliche reale Sensoren benötigt, oder ob man nicht die bestehende Messtechnik nutzen kann, um auf der Basis von Modellen virtuelle Sensoren zu entwickeln“, so Kahlbau. „Auch übergeordnete Fragen sind zu klären: Wo werden die Daten ausgewertet? Wer ist dafür zuständig – der OEM oder ein Drittanbieter? Wie sieht das Flottenmanagement aus? Viele Player haben sich in allen Bereichen der technologischen Wirkkette durch Übernahmen und Beteiligungen positioniert und suchen nun nach dem Weg in die produktive Umsetzung.“ Neben der Beratung bietet C4D das Management kompletter hochstrategischer Projekte an, inklusive zertifizierter Projektleiter.
Intelligent umgesetzt, kann Predictive Maintenance eine für den Kunden direkt erfahrbare Facette der Digitalisierung sein und sich dadurch positiv auf das Image auswirken. „Künftig werden Kunden nicht mehr nur für das Produkt bezahlen“, sagt Dr. Kahlbau. Schnackig ergänzt: „Sie erwarten vielmehr eine hohe Verfügbarkeit – der gute Service einer Werkstatt wird an Bedeutung verlieren, da das Nutzenversprechen stärker in den Mittelpunkt rückt.“

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