IAV hat für einen chinesischen OEM das Cockpit der Zukunft entworfen

Ein HMI für China

Digitalisierung und Autonomes Fahren verändern die Benutzerschnittstellen im Fahrzeug. Bei neuen HMI-Konzepten spielen aber auch kulturelle Unterschiede eine wichtige Rolle. Timm Kellermann, Geschäftsführer der IAV-Beratungstochter consulting4drive, und Marcus Heinath, IAV-Abteilungsleiter UX, HMI & Instrument Cluster, berichten über Herausforderungen und Chancen bei der HMI-Entwicklung für den chinesischen Markt.

Warum denken Sie über neue HMI-Konzepte nach?

Kellermann: Weil sich durch die Digitalisierung alles ändert. Heutige Autos mit neuen Anzeigen, Displays und Bedienkonzepten sind erst der Anfang. Wir fragen uns: Wie müssen sich Konzepte ändern? Welches Erlebnis begeistert die Kunden in Zukunft? Was sind die Technologietreiber im Markt? Hier ergänzen sich die Kompetenzen von consulting4drive und IAV perfekt: Wir sind besonders gut bei Strategien, Konzepten und beim Anforderungsmanagement, während das IAV-Team von Marcus Heinath enorme Praxiserfahrung aus diversen Projekten mitbringt und genau weiß, was im Feld funktioniert. Kombiniert man beides, kann man ein wahrhaft zukunftsweisendes und menschengerechtes HMI für das digitale Zeitalter entwickeln.

Heinath: Wir haben schon konkrete Vorstellungen zu neuen HMI-Konzepten und dazu bereits eine Vielzahl von Kundengesprächen geführt. Dabei hat sich gezeigt, dass die Digitalisierung und das autonome Fahren die zwei wichtigsten Treiber bei der HMI-Weiterentwicklung sind. Außerdem müssen sich die Systeme in Zukunft noch stärker von alleine an ihre Nutzer anpassen und proaktiv auf deren Vorlieben und Verhaltensmuster eingehen sowie Umgebungsvariablen innerhalb und außerhalb des Fahrzeuges berücksichtigen. Und noch etwas spielt hier eine zentrale Rolle: der digitale Nutzer-Kosmos. Die meisten Nutzer kommen aus der Apple- oder Android-Welt und sind dadurch geprägt. Künftige HMIs müssen sich an diese außerhalb desAutos erworbenen Präferenzen anpassen und erlernte Bediengewohnheiten berücksichtigen. Die Smartphone-Welt sollte sich im Fahrzeug wiederfinden.

»In China wünschen sich die Menschen zum Beispiel einen Avatar, der sie beim Einsteigen begrüßt, als „Companion“ ihre Wünsche antizipiert und sie unterstützt.«

Marcus Heinath — IAV-Abteilungsleiter UX, HMI & Instrument Cluster

Gibt es eine Lösung, die in allen Märkten funktioniert?

Kellermann: Wahrscheinlich nein, denn wir müssen uns bei der Bedienung an das anpassen, was die Menschen vor Ort bereits kennen und nutzen. In China verwendet praktisch jeder WeChat und Alibaba. Die Erwartungshaltung der Kunden ist darum von ganz anderen Benutzerschnittstellen geprägt als beispielsweise in Deutschland und Europa.

Autos werden sich in den kommenden Jahren stark verändern. Wie lässt sich schon heute herausfinden, was sich die Kunden in Zukunft wünschen?

Kellermann: Um dieser Antwort näher zu kommen, haben wir in China rund 1.500 Menschen aus allen Altersgruppen sowie aus der Stadt und vom Land befragt. Wir wollten aber nicht nur wissen, welche konkreten Funktionen sie sich in Zukunft wünschen – stattdessen hat uns interessiert, wie sie leben und welche Gewohnheiten sie haben: Wie fahren sie? Wie navigieren sie? Was machen sie im Auto? In China wird beispielsweise gerne während der Fahrt gegessen, was natürlich Auswirkungen auf das HMI und die Sicherheit hat.

Heinath: Es kommen aber noch andere Fragen hinzu, die stark von der Kultur abhängen: Wie wichtig sind Datenschutz und Privatsphäre? Legen die Kunden Wert auf Prestige oder bevorzugen sie Understatement? Aus all diesen Informationen haben wir einen Anforderungskatalog an die Gestaltung und die Funktionen des HMIs abgeleitet.

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Und was haben Sie daraus für China gelernt?

Heinath: In China wünschen sich die Menschen zum Beispiel einen Avatar, der sie beim Einsteigen begrüßt, als „Companion“ ihre Wünsche antizipiert und sie unterstützt. Dafür muss man viele Daten sammeln und mit Künstlicher Intelligenz ständig dazulernen – wobei der Lernprozess nicht nur im Auto, sondern auch außerhalb in einer Cloud ablaufen kann. Datenschutz ist für uns bei IAV natürlich ein wichtiges Thema und zwar überall auf der Welt – auch wenn viele Menschen in China diesem Aspekt offenbar vergleichsweise wenig Beachtung schenken.

Kellermann: Ein solcher Companion könnte ein Mobilitätsassistent sein, der seinem Nutzer bereits proaktiv über Handy, Uhr oder Tablet bei der Planung der Fahrt hilft – egal, ob im eigenen Auto oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Heute gibt es noch keinen Dienst, der die Menschen dabei wirklich gut und durchgängig unterstützt. Er sollte den Menschen die Wünsche von den Augen ablesen und den Stress während der Fahrt reduzieren, ohne dabei zu nerven. KI kann aber auch ganz praktische Dinge lernen, zum Beispiel intelligente Sitze mit mehr als 20 Verstellmöglichkeiten an die Bedürfnisse des Fahrers anzupassen. Denkbar wäre auch das proaktive Einstellen für Klima, Umgebungsambiente sowie das assistierte Fahren.

»Künftig wird das gleiche Fahrzeug sich jedem Nutzer leicht anders präsentieren. Diese Flexibilität und selbstlernende Individualisierung beherrscht heute noch kein Serienfahrzeug.«

Timm Kellermann — Geschäftsführer von consulting4drive

Warum sind asiatische Hersteller hier so aktiv?

Kellermann: Viele Hersteller in Europa und den USA glauben, dass ihre aktuellen Fahrzeuge über ein ausgereiftes HMI verfügen – was in gewisser Weise natürlich auch stimmt. Die Menschen in Europa haben jedoch teilweise noch sehr traditionelle Bedürfnisse in puncto Benutzerschnittstellen und Funktion. In Asien ist das anders: Dort agieren die Menschen viel stärker mit ihren Smartphones, und ihr ganzes Leben ist von digitalen Diensten noch mehr als bei uns durchdrungen – zum Beispiel beim Bezahlen.

Das wollen und müssen die asiatischen Hersteller in der Fahrzeugentwicklung berücksichtigen. Mit etwas Zeitversatz werden wir wohl eine ähnliche Entwicklung auch in Europa und den USA erleben. Aber selbst dann müssen wir eine gewisse Flexibilität bewahren, weil die Menschen auch in Zukunft die gleichen Dinge auf unterschiedliche Art erledigen. Das bedeutet, dass künftig das gleiche Fahrzeug sich jedem Nutzer leicht anders präsentiert. Diese Flexibilität und selbstlernende Individualisierung beherrscht heute noch kein Serienfahrzeug.

Warum sollte ein Kunde zu IAV kommen, um ein neues HMI-Konzept zu entwickeln?

Heinath: Weil wir alle Kompetenzen für solche Innovations- und Serienentwicklungsprojekte an Bord haben: Design, Technologie und Geschäftsmodelle. Und wir können alles gemeinsam mit unseren Kunden vor Ort umsetzen – in diesem Fall in China für China. Hier sind wir in Shanghai und Peking mit eigenen Engineering-Standorten und mehr als 100 IAV-Entwicklern vertreten. Wir haben mehr als 20 Jahre lokale Projekterfahrung und Mitarbeiter vor Ort, die den Markt und die Gegebenheiten bestens kennen. Denn es reicht eben nicht, einfach die Sprache im HMI an das jeweilige Land anzupassen. Wir müssen unser Verständnis von Kultur und Bedürfnissen der Menschen kontinuierlich weiterentwickeln, um den Kunden ein HMI-Erlebnis mit echtem Mehrwert bieten zu können – ein Erlebnis, das die Fahrzeugwelt mit der Außenwelt verbindet.

Das Interview erschien in der automotion 01/2020, dem Automotive Engineering-Fachmagazin von IAV. Hier können Sie die automotion kostenfrei bestellen.

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