IAV – der Softwarepartner
Die klassischen Kriterien für den Kauf eines Fahrzeugs spielen für den Einzelnen in Zukunft vielleicht nicht mehr die entscheidende Rolle. Viel mehr werden Fahrzeuge zu Rolling Devices, die sich über software-basierte Funktionen und Add-ons definieren. Das für die Entwicklung dieser Systeme notwendige Know-how verbindet Unternehmens-IT und Konsumer-Elektronik mit der klassischen Automobilelektronik. Wie das zusammenspielt, erläutern die IAV-Manager Jean Wagner-Douglas und Martin Richter.
Die Autohersteller wollen zukünftig mehr Software selbst entwickeln. Ist das eine gute oder eine schlechte Nachricht für IAV?
Wagner-Douglas: Eine gute. Wir werden daran genauso beteiligt sein wie an Elektronik- und Software-Entwicklungen der Vergangenheit.
Richter: „Selbst machen“ heißt ja zunächst einmal, dass das Thema Software als absolut erfolgskritisch erkannt wurde. Und die Aussage steht für das Bestreben, das Thema von Beginn an mitzudenken. Viele Hersteller werden diese Aufgaben aufgrund verschiedener Faktoren, wie dem Fachkräftemangel und immer schneller werdende Entwicklungszyklen, nicht alleine meistern können. Hier kommen wir ins Spiel und unterstützen die OEMs mit unserer End2End-Expertise.
Angefangen bei der Systemarchitektur über alle IoT-Elemente bis zu der Definition der Konnektivität sind wir der Partner, der sich in allen Bereichen auskennt. Wir übernehmen dabei Verantwortung für die komplexe Softwareentwicklung, die anschließende Integration bis hin zur Absicherung.
Über welche Art von Software reden wir dabei eigentlich?
Wagner-Douglas: Bislang ist die Software im Fahrzeug durch Embedded Systeme geprägt, beispielsweise bei der Klima- oder Antriebssteuerung. Durch die zunehmende Vernetzung in und um das Fahrzeug kommen mehr und mehr Konnektivitätsdienste hinzu. Das erfordert ein nahtloses Zusammenspiel zwischen der Software im Fahrzeug, im Backend und auf mobilen Endgeräten. Wir bewegen uns auf eine Welt zu, in der Software-Updates oder neue Apps für das Auto genauso selbstverständlich sind wie für ein Smartphone.
Richter: Künftig ist das Fahrzeug eingebettet in ein komplettes Mobilitätsökosystem. Damit ergeben sich neue Services für die Nutzer, mit denen natürlich auch neue Anforderungen einhergehen. Gleichzeitig spielt beispielsweise auch die Einbindung in neue Betreibermodelle, wie etwa Car- und Ride-Sharing, eine Rolle.
Daneben gibt es aber noch klassische Software auf Embedded Systemen?
Wagner-Douglas: Wenn man ins Auto schaut, unterscheidet man klassisch zwischen sicherheitsrelevanten Systemen, etwa im Fahrwerk, und Services, beispielsweise zur Unterhaltung der Insassen.
Richter: Die Grundfunktion rund um das Fahren wird weiter als Embedded-Funktion auf Classic AUTOSAR realisiert werden. Das Zusammenspiel mit service-orientierten Strukturen, zum Beispiel auf Basis von Adaptive AUTOSAR oder direkt Linux, sorgt dann für eine Integration in die IoT-Welt.
«Wir bewegen uns auf eine Welt zu, in der Software-Updates oder neue Apps für das Auto genauso selbstverständlich sind wie für ein Smartphone.»
— Bereichsleiter Connected Software Systems & Services und Vehicle Dynamics
Steuern künftig leistungsstarke Server aus der Ferne das komplette Fahrzeug?
Wagner-Douglas: Für vollständig autonom fahrende Fahrzeuge wird das ein gut denkbares Szenario sein. Dafür benötigt man eine hochverfügbare Bandbreite in der Datenübertragung, die sicher auch in fünf Jahren nicht überall zur Verfügung stehen wird. Schon heute sehen wir diese Verschiebung immer häufiger in Teilbereichen, die nicht auf Fahrfunktionen zugreifen. Wenn wir auf das Fahrwerk schauen, ist die Adaption auf die Straßenbeschaffenheit zu nennen. Ein nächster Schritt wäre, dass sich das Fahrzeug selbstständig einen Datensatz herunterlädt, mit dem es einen bestimmten Alpenpass perfekt passiert. Das Beispiel zeigt, dass sich Komfortfunktionen und sicherheitsrelevante Funktionen gar nicht mehr vollständig trennen lassen. Dennoch wird auch in Zukunft ein gewisser Anteil an Intelligenz direkt im Fahrzeug bleiben. Das ist notwendig, um insbesondere die Sicherheit der Fahrzeuginsassen zu gewährleisten auch dann, wenn die Konnektivität nicht uneingeschränkt verfügbar ist.
Wie sehr wird das Auto in Zukunft durch das herstellerspezifische Betriebssystem geprägt?
Richter: Elektromobilität, Autonomes Fahren und Vernetzung verändern das Auto an sich grundlegend. Über software-basierte Systeme können die Automobilhersteller diese Entwicklung in den eigenen Händen behalten – und nicht zuletzt ihre Wertschöpfung sichern. Denken Sie nur an die Betriebssysteme aus der klassischen Software-Welt. Die Unterschiede zwischen Apple und Windows sind bewusste Produktentscheidungen, die marktrelevant sind. Die Betriebssysteme nehmen einen aktiven Einfluss auf das Nutzererlebnis und wirken sich damit auf Kaufentscheidung und Markenbindung aus.
Verlagert sich die Wertschöpfung von der Hard- in die Software?
Wagner-Douglas: Definitiv ja. Auch das kann man gut im Fahrwerk beobachten. Statt eines Lenkgestänges fährt das Auto mit „Steer-by-Wire“.
Richter: Hinzu kommt der Trend, die Rechenleistung im Fahrzeug auf deutlich weniger Steuergeräte zu verteilen. Zum Teil sind das Hochleistungsrechner, auf denen Software von mehreren Dutzend Lieferanten zum Einsatz kommt.
Und das funktioniert?
Richter: Ja, aber nur wenn die Architektur vorher ordentlich durchdacht wurde und es eine Entwicklungsplattform gibt, die diese Mammutaufgabe unterstützt.
Wagner-Douglas: Wichtig ist dabei, die Software-Strukturen ganzheitlich zu denken. Genau das macht bei IAV unsere neue Geschäftseinheit „Connected Software Systems & Services“.
Sie haben die komplette Software-Entwicklung in einer Einheit gebündelt?
Wagner-Douglas: IAV entwickelt natürlich weiterhin in domänenspezifischen Einheiten wie Antrieb oder Fahrwerk. Insofern ist Software als Basiskompetenz auch weiterhin im gesamten Unternehmen vertreten. Insgesamt sprechen wir hier von über 3.000 Software-Entwicklern und software-nahen Spezialisten. Durch die neue Aufstellung mit einer zentralen Software-Einheit, in der wir 800 dieser Spezialisten zusammengezogen haben, schaffen wir eine Querschnittsfunktion für all diese Themen bei IAV. Darüber hinaus verbinden wir das Know-how aus der Embedded-Welt mit den Themen der IT-Welt. Das erlaubt es uns, einen gesamtarchitektonischen Ansatz über die verschiedenen Bereiche wie Fahrzeuge, Backend und mobile Endgeräte zu verfolgen. Damit können wir neue Themen wie die Datenanalyse und Cloudanwendungen effektiv angehen.
Richter: Um das auch praktisch umsetzen zu können, sind unsere Teams entsprechend aufgestellt. So arbeiten Experten aus beiden Welten je nach Projektanforderung zusammen. Gleichzeitig bauen wir die Software-Einheit als internen Dienstleister in der Form aus, dass alle anderen Bereiche jederzeit die Fachunterstützung und den Support von uns bekommen, die sie brauchen.
Wie gut funktioniert die Zusammenarbeit zwischen diesen Welten?
Wagner- Douglas: Knapp ein halbes Jahr nach der Gründung unseres neuen Bereichs funktioniert das natürlich an mancher Stelle noch nicht ganz reibungslos. Immerhin reden wir hierbei von knapp 1.000 Kolleginnen und Kollegen, die sich neu zusammenfinden müssen. Um allen eine optimale Basis im Alltag zu bieten und das Miteinander zu fördern, orientieren wir uns an den agilen Prinzipien. Gleichzeitig profitieren wir durch diese Arbeitsweise, indem wir flexibler auf die immer schnelleren Entwicklungszyklen und individuellen Anforderungen reagieren können.
«Künftig ist das Fahrzeug eingebettet in ein komplettes Mobilitätsökosystem.»
— Fachbereichsleiter Connected Software Systems & Services
Und das geht ohne Qualitätseinbußen?
Wagner-Douglas: Es ist ein Mythos, dass agiles Arbeiten zu weniger Qualität führt. Das Gegenteil ist der Fall! In einigen Teams arbeiten wir schon seit Jahren agil und haben gemerkt, dass Fehler viel schneller entdeckt werden. Denn in jedem Sprint werden alle Prozessstufen durchlaufen, nur eben in kleinen Schritten. Das Team schaukelt sich zudem im positiven Sinne hoch, um rechtzeitig fertig zu werden. Wenn man die Methode richtig anwendet, arbeitet man strukturierter als in einer klassischen Wasserfall-Projektorganisation – auch wenn eine klassische Arbeitsweise bei bestimmten Themen sicherlich weiterhin Sinn macht und keinesfalls ausgedient hat.
Richter: Um agile Praktiken auch auf unseren Software-Engineering-Alltag zu übertragen, haben wir eine agile Projektlandschaft aufgesetzt, die wir „AgiPro“ nennen. Das Besondere daran ist, dass wir damit agile Arbeitsweisen mit verschiedenen Werkzeugen aus der Embedded- und der IT-Entwicklung verbinden können, um den Standards nach Automotive SPICE gerecht zu werden.
Wo nehmen Sie all die IT-Spezialisten her?
Wagner-Douglas: Wir haben viele Kolleginnen und Kollegen neu eingestellt, um das Wachstum zu meistern. Darüber hinaus setzen wir bei IAV auf ein rollenbasiertes Qualifizierungsprogramm. Das bedeutet, dass wir verschiedene Schulungsmöglichkeiten – online, inhouse, aber auch extern – anbieten, um eine kontinuierliche Weiterentwicklung auf höchstem Niveau zu ermöglichen.
Richter: Auch bei der Rekrutierung gehen wir neue Wege, zum Beispiel indem wir an Pitch-Nächten teilnehmen. Auch arbeiten wir seit vielen Jahren intensiv mit Hochschulen zusammen und setzen weiter auf solche starken Partnerschaften. Für viele Top-Talente ist IAV vor allem deshalb so spannend, weil man bei uns sehr früh Verantwortung übernehmen und eine große Themenvielfalt bearbeiten kann.
Wagner-Douglas: Immer nur alles neu, alles jung funktioniert natürlich auch nicht. Entscheidend ist, dass wir die richtige Mischung aus Berufseinsteigern und erfahrenen Entwicklern an Bord haben, die gemeinsam an neuen Ideen für unsere Kunden arbeiten.
Das Interview führte Johannes Winterhagen.
Das Interview erschien in der automotion 01/2020, dem Automotive Engineering-Fachmagazin von IAV. Hier können Sie die automotion kostenfrei bestellen.