Individuelle Mobilität, gesellschaftliche Herausforderungen

Andreas Michalovcik, Projektleiter Business Development bei IAV, über die Treiber zukünftiger Mobilitätskonzepte

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Die Zahl innovativer Mobilitätskonzepte steigt kontinuierlich und rasant. Weit über unsere Branchengrenzen hinweg werden die Potenziale der Mobilität der Zukunft debattiert, Gesetze werden für Angebote geteilter Mobilität gelockert – und doch prägen Pkw mit häufig genau einem Insassen das Bild auf unseren Straßen. Enteilt die Diskussion über eine Mobilitätsrevolution also der Realität?

Für die Beantwortung dieser Frage lohnt der Blick auf das veränderte Mobilitätsverhalten, auf das sich neue Mobilitätsanbieter berufen, sowie auf die zugrunde liegenden Mobilitätspräferenzen. In der Tat verändert sich aktuell in Teilen der Bevölkerung das Mobilitätsverhalten. Es sind vor allem junge, techaffine Großstädter, die vermehrt kostengünstigere, schnellere, und – der gesellschaftspolitische Aspekt – nachhaltigere Angebote nutzen. Multi- und Intermodalität ist das Gebot der Stunde.

Diese Anpassungen im Mobilitätsverhalten lassen sich jedoch weitgehend auf ein verbessertes Angebot im Zuge der Digitalisierung zurückführen. Wo dieses Angebot nicht oder nur eingeschränkt vorhanden ist – vor allem aufgrund der geringeren Bevölkerungsdichte im ländlichen oder suburbanen Raum – bleibt die Dominanz des eigenen Pkw ungebrochen. Entsprechend liegt der Anteil der Bevölkerung, der regelmäßig Carsharing-Angebote nutzt, noch immer im niedrigen einstelligen Prozentbereich. Ridesharing-Angebote, bei denen nicht nur das Fahrzeug, sondern auch die einzelne Fahrt geteilt wird, erreichen einen nochmals kleineren Kundenkreis. Das legt den Verdacht nahe, dass sich zumindest die Mobilitätspräferenzen in der Gesellschaft nicht grundlegend verändert haben.

Darüber, wie wir uns fortbewegen wollen, entscheiden wir anhand einiger weniger Kriterien. Wie komme ich am schnellsten ans Ziel? Wie am günstigsten? Wie am umweltfreundlichsten? Auf diese Fragen gibt es messbare, objektive Antworten. Das hilft bei der Vergleichbarkeit. Für unsere Entscheidungen sind die nicht messbaren, emotionalen Kriterien aber häufig bedeutsamer: Wie komme ich am komfortabelsten ans Ziel? Welche Option bietet mir die größte Planungssicherheit?
Bei diesen Fragen stehen neue Mobilitätskonzepte vor einer Mammutaufgabe. Denn jedes Angebot muss im Verhältnis zum Status quo betrachtet werden. Der private Pkw stellt für viele noch immer den Inbegriff von Mobilität und Freiheit dar. Er vergrößert den persönlichen Bewegungsradius um ein Vielfaches, und bewahrt dabei das vermutlich wichtigste Element individueller Mobilität: die freie Entscheidung darüber, wohin die Reise geht und wann sie startet – und all das in einem privaten Raum.

Diesen Luxus werden die allermeisten auch perspektivisch nicht aufgeben wollen. Daraus ergibt sich zwangsläufig: Für das Erlebnis Mobilität, das viele derzeit mit dem eigenen Automobil gleichsetzen, wird es auch in Zukunft großen Bedarf und eine hohe Zahlungsbereitschaft geben. Auch wenn es dann womöglich in einem anderen Gewand daherkommt.

Gleichzeitig zeigt die Debatte um Dieselfahrverbote exemplarisch – ob fundiert oder nicht, dass der Mobilitätssektor zunehmend in den politischen Fokus gerät. Umwelt- und Gesundheitsanforderungen nehmen stetig zu, das lange Zeit selbstverständliche autozentrierte Stadtbild wird hinterfragt.

Damit stehen wir vor einem klassischen Allmende-Problem: Das Resultat der einzelnen Mobilitätspräferenzen passt nicht mehr zur Mobilitätspräferenz der Gesellschaft als Ganzes.
Auf zwei Wegen kann dieses Missverhältnis wieder in Ausgleich gebracht werden: Erstens, die weitere konsequente Umstellung auf umweltfreundliche Technologien bei gleichzeitiger Weiterentwicklung nachhaltiger Mobilitätskonzepte zu echten Alternativen – das wäre eine Verbesserung des Status quo. Oder zweitens, die Einschränkung der Mobilitätsoptionen durch regulatorische Eingriffe, Fahrverbote oder prohibitive Gebühren wie Londons Congestion Charge – eine Verschlechterung des Status quo.

Dieses Drohszenario wird in den kommenden Jahren neben der Digitalisierung zu einem der wichtigsten Treiber neuer Mobilitätskonzepte. Es ist eine der großen Chancen für die Automobilindustrie und alle angrenzenden Branchen, die zur Entwicklung von Mobilitätskonzepten beitragen, dass an ihrem Erfolg ein gesellschaftliches Interesse besteht.

Die Ansätze sind bereits vorhanden, wir müssen sie weiterentwickeln: Verbinden wir das autonome Fahren mit Konzepten der geteilten Mobilität, verbessern wir das Mobilitätserlebnis, ohne das Gesamtverkehrsaufkommen zu steigern. Mittels intelligenter, datenbasierter Abstimmung von Angeboten und Fahrtwünschen stärken wir den liniengebundenen ÖPNV nicht zuletzt im ländlichen Raum, zum Beispiel durch bedarfsgerechte Zubringerangebote. Umsteigezeiten entfallen, wenn sich Umsteigeort und -zeit in Echtzeit anpassen. Gleichzeitig genießen wir auch in öffentlichen Verkehrsträgern private und für uns individualisierte Räume.
Damit das gelingt, reicht es nicht, dass Unternehmen ihre Stärken innerhalb der Wertschöpfungskette von Mobilitätskonzepten einbringen – vom Fahrzeug über Infrastruktur, technische Leitstelle bis hin zum KundenFrontend. Vielmehr müssen sie auch das Zusammenspiel der Elemente verinnerlichen. Diese End-to-End-Kompetenz erfordert einen kontinuierlichen Aufbau von Wissen und Netzwerken. Mit ihr lassen sich als Integrator für Gesamtsysteme sowie als Consulter und Umsetzer für Mobilitätskonzepte völlig neue Gestaltungsspielräume und Geschäftsfelder erschließen. Das Mobilitätserlebnis wird sich – wenn wir es richtig machen – sowohl individuell als auch gesamtgesellschaftlich verbessern. Nichts weniger muss unser Anspruch sein.

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