Mit maschinellem Lernen Komplexität beherrschen

Als eines der ersten Industrieunternehmen ist IAV der Forschungskooperation „Cyber Valley“ beigetreten, um in der Wissenschaft und Wirtschaft auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz zusammenzuarbeiten. In einem Forschungsprojekt erforschen IAV und das Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme (MPI-IS) in Stuttgart derzeit gemeinsam selbstlernende Verfahren für die Automobiltechnik. Das Thema bewegt sich an der Schnittstelle zwischen maschinellem Lernen und Regelungstechnik.

Die Herausforderungen im Engineering nehmen zu, weil die betrachteten Systeme immer komplexer werden. „Bisher hat man sie typischerweise zuerst modelliert und dann mathematisch optimiert“, erklärt Alexander von Rohr, der am MPI-IS im Rahmen der Forschungskooperation Cyber Valley mit IAV seit September 2018 an seiner Promotion arbeitet. „Aber je komplexer die Systeme werden, desto aufwendiger ist dieser Ansatz und desto ungenauer sind die Ergebnisse, die er liefert. Darum bietet es sich an, maschinelles Lernen zu nutzen, um gewünschtes Verhalten automatisch zu lernen.“

Logo Cyber Valley

Die Cyber-Valley-Initiative ist eine der größten europäischen Forschungskooperationen von Wissenschaft und Wirtschaft auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz. Ziel ist es, den Austausch zwischen anwendungsorientierter Industrieforschung und Grundlagenforschung zu fördern. IAV ist seit Anfang 2017 als einer der ersten von aktuell sieben Konzernen Teil des Forschungsverbundes.

Von Rohr sucht nach Wegen, Regler in Motoren mithilfe künstlicher Intelligenz automatisch zu verbessern. Sein Ziel ist es, die Steuerung des Motors so einzustellen, dass er möglichst sparsam mit Energie umgeht, trotzdem aber leistungsstark bleibt. Gleichzeitig muss der Regler physikalische Beschränkungen berücksichtigen, um Schäden zu vermeiden. „Ich muss auf dem Teststand sicherstellen, dass der Regler das System nicht instabil werden lässt und es daraufhin beschädigt wird“, sagt von Rohr, der an der Universität zu Lübeck Informatik mit der Vertiefungsrichtung Robotik und Automatisierungstechnik studiert hat. „Das könnte passieren, wenn der Regler zu stark reagiert und der Motor sich beispielsweise schneller dreht, als erlaubt ist.“

Mit diesen Beschränkungen im Blick erforscht von Rohr Algorithmen, die das Verhalten des Motors aus Daten erlernen. Er nutzt dabei aktuell keine neuronalen Netze, sondern Gauß-Prozesse, die Vorwissen wie physikalische Gesetzmäßigkeiten oder Expertenwissen berücksichtigen können. „Gauß-Prozesse sind keine Blackboxes wie neuronale Netze, weil es bei ihnen einfacher ist, nützliche Eigenschaften mathematisch zu beweisen“, so von Rohr. „Man kann zum Beispiel Aussagen über die Stabilität des Systems treffen und die Unsicherheit in bestimmten Betriebspunkten quantifizieren.“

Weniger Aufwand bei der Einstellung der Regler

Auf Basis der gelernten Modelle will er Regler entwerfen, die den Motor so ansteuern, dass alle vorgegebenen Ziele erreicht werden. „Ich möchte zeigen, wie man aus Daten, die der Motor selbst erzeugt, Regler verbessern und so das arbeitsaufwendige Einstellen von Reglern per Hand reduzieren kann“, erklärt von Rohr. „Wesentlicher Bestandteil meiner Doktorarbeit ist es, die genauen Eigenschaften der erlernten Regler mathematisch zu definieren und dann zu beweisen.“

Den Praxistest seiner Ergebnisse ermöglicht die Kooperation mit IAV, denn die neu entwickelten Algorithmen können sofort an realen Motoren untersucht werden. „Das ist für mich der große Bonuspunkt bei der Verbindung von Grundlagen- und angewandter Forschung: IAV bietet mir mit seinen Motorenprüfständen ein tolles Umfeld, in dem ich meine mathematischen Modelle ausprobieren kann“, sagt von Rohr. „Wenn ich meine Algorithmen an so komplexen Systemen wie einem Motor testen kann und sie dann auch funktionieren, verleiht das meiner Forschung zusätzliches Gewicht.“

Brücke zwischen Wissenschaft und Anwendung

Auch von Rohrs Doktorvater betont den Nutzen der Zusammenarbeit: „In unseren Projekten mit IAV können wir eine Brücke zwischen Wissenschaft und Anwendung schlagen“, sagt Dr. Sebastian Trimpe, Leiter der Cyber-Valley-Forschungsgruppe „Intelligent Control Systems“ am Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme. „Die Zusammenarbeit funktioniert hervorragend, weil beide Seiten sowohl grundlegende Forschungsfragen zu lernenden Systemen lösen als auch die Erkenntnisse auf echte Maschinen umsetzen wollen.“ Trimpe hatte bereits vor dem Start des Forschungsprojektes mit IAV zusammengearbeitet.

Von Rohr arbeitet derzeit hauptsächlich am MPI-IS in Stuttgart, besucht aber regelmäßig seine IAV-Kollegen im Entwicklungszentrum Gifhorn. Dort arbeitet er eng mit IAVEntwicklungsingenieur Dr. Matthias Neumann-Brosig und mit dem Regelungstechnischen Exzellenzzentrum zusammen. „Diese Zusammenarbeit wird sich noch intensivieren, sobald die KI-Methoden zur Verfügung stehen und auf dem Prüfstand getestet werden können“, sagt von Rohr, dessen Doktorarbeit 2022 abgeschlossen sein soll.


Das Interview erschien in der automotion 02/2019, dem Automotive Engineering-Fachmagazin von IAV. Hier können Sie die autmotion kostenfrei bestellen.