Neue Raumordnung

Im Zeitalter der „Shared Mobility“ gewinnt Interieur-Design & HMI eine neue Bedeutung

Bei der Diskussion um das Fahrzeug der Zukunft stehen nicht selten der Antrieb und Automatisierungsgrad im Mittelpunkt. Dabei wird oft ein weiterer Aspekt übersehen, der für das Fahrerlebnis der Kunden mindestens genauso bedeutungsvoll ist: der Fahrzeuginnenraum. IAV und Consulting4Drive beschäftigen sich intensiv mit neuen Konzepten für das Interieur des 21. Jahrhunderts. Erste Prototypen sind schon in Arbeit.

Was erwarten die Fahrzeuginsassen in Zukunft vom Interieur? Die Frage ist wichtig, weil sich in den kommenden Jahren nicht nur die Technik, sondern auch das Nutzungsverhalten der Kunden deutlich verändern dürfte – weg vom Fahrzeugbesitz und hin zur bloßen Nutzung eines Fahrzeugs beim Carsharing, vor allem in Ballungsräumen. In diesem Szenario wird der Wohlfühlfaktor während der Fahrt unter Umständen wichtiger als die äußere Form oder Motorisierung.

Zur zunehmenden Bedeutung des Innenraums trägt auch der zweite Megatrend im Bereich der Mobilität bei: das autonome Fahren. Durch Fahrassistenzsysteme nimmt die Bedeutung des Fahrerarbeitsplatzes ab und reduziert sich auf das Wesentliche; der perspektivische Wegfall des Fahrerplatzes samt Lenkrad und Pedalen ermöglicht darüber hinaus den Designern eine grundlegende Umgestaltung des Fahrzeuginnenraums.

Kokon, nicht nur im Bus

„Wir arbeiten bereits in Kundenprojekten an der Lösung genau dieser Fragen“, berichtet Dr. Marcus Heinath, Abteilungsleiter für UX, HMI und Instrument Cluster bei IAV. „In autonomen Fahrzeugen haben die Passagiere beispielsweise viel mehr Zeit zu arbeiten, brauchen dafür aber ein passend gestaltetes Umfeld.“ Entscheidend für eine produktive Wohlfühlatmosphäre ist der richtige Mix aus Platzaufteilung, Materialien, Interieurgestaltung und Anzeige-/ Bedienelementen. Eine wichtige Rolle spielt dabei auch das Nutzungsszenario: So dürfte es in Zukunft neben autonom fahrenden „Robo-Taxis“ auch fahrerlose Busse geben, in denen sich fremde Passagiere den Platz teilen. „Hier kommt es darauf an, dennoch eine gewisse Privatsphäre zu schaffen“, erklärt Dr. Tibor Passek, Manager bei Consulting4Drive. „Das lässt sich beispielsweise durch einen Sichtschutz oder eine akustische Abschottung mit Gegenschall erreichen.“ Ziel ist es, einen ungestörten Raum für Arbeit und Unterhaltung zu schaffen – Experten sprechen hier von „Cocooning“.

Derzeit arbeiten die IAV-Experten an ersten Prototypen der Fahrzeuginnenräume 2.0, die bereits 2018 zur Verfügung stehen sollen. Wie schnell die neuen Ideen dann in Serie gehen werden, hängt vor allem von der Entwicklung im Bereich des autonomen Fahrens und des Carsharings ab. „In der Zusammenführung beider Entwicklungen liegt die Schwierigkeit jedoch darin, dass das Carsharing heute bereits dort gut funktioniert, wo das autonome Fahren noch vor seinen größten technischen Herausforderungen steht – in Großstädten. Genau andersherum verhält es sich außerhalb dieser Städte“, sagt Passek. „Allerdings sind auch im Fahrzeuginnenraum noch einige technische Herausforderungen zu meistern.“

So stellt das Carsharing an die Komponenten des Interieurs neue Anforderungen: Sie müssen nicht nur robust und einfach zu reinigen sein, sondern sich auch leicht austauschen oder modifizieren lassen, damit ein Share-Car auch nach sechs Jahren noch einladend und frisch auf den Fahrgast wirkt. Denn in Zukunft dürfte sich das Innenraumdesign zu einem wichtigen Differenzierungsmerkmal für Carsharing-Anbieter entwickeln – so wäre es beispielsweise vorstellbar, dass Unternehmen durch ein modulares Interieur selbiges an aktuelle Trendfarben oder an kundensegmentspezifische Anforderungen anpassen können, um damit Fahrgäste zu begeistern und zu binden.

Sofort wie zu Hause fühlen

Bedienkonzepte müssen für künftige Share-Cars zum Teil komplett neu gedacht werden. Zu einem besseren Fahrerlebnis könnte Augmented Reality beitragen. Noch wichtiger wird es allerdings sein, die mobilen Endgeräte der Passagiere ebenso nahtlos wie sicher an täglich wechselnde Fahrzeuge anzukoppeln. „Das Smartphone bestimmt bereits heute ganz wesentlich unser Leben“, sagt Heinath. „Darum muss sich die Benutzerschnittstelle in den Fahrzeugen der Zukunft am privaten Umfeld der Passagiere orientieren.“ Mit anderen Worten: Die grundlegende Anzeige-/Bedienphilosophie eines Share-Cars orientiert sich an dem digitalen Ökosystem, das der Nutzer mitbringt: Android, iOS oder Microsoft. Aufgrund der kurzen Verweildauer des Nutzers passt sich ein Share-Car maximal an seinen Nutzer an. Hier sind Fahrzeugentwickler und -hersteller aufgerufen, bisherige Denkgrenzen aufzulösen und intensiv mit den führenden Unternehmen aus dem Bereich der Consumer-Elektronik an optimalen Lösungen für die Kunden zu arbeiten.

Das Bedürfnis nach Sicherheit hat auch einen ganz realen, physischen Aspekt. Insbesondere in einem fahrerlosen Auto und inmitten unbekannter Mitfahrer ist es für den einzelnen Passagier wichtig, vor körperlichen Übergriffen geschützt zu sein. Eine Innenraumüberwachung mit Videokameras, ähnlich wie heute im öffentlichen Nahverkehr, kann dieses Sicherheitsgefühl stärken und dem Carsharing-Anbieter eine gewisse Kontrolle über die Vorgänge in seinen Fahrzeugen ermöglichen. Zur Sicherheit und Privatsphäre gehört dabei auch, dass persönliche Daten nach Verlassen des Autos automatisch, zuverlässig und nachweislich gelöscht werden (insbesondere Anruflisten, Innenraumverhalten und Bewegungsmuster).

Fahrzeuge von Grund auf neu entwickeln

„Viele etablierte OEMs nehmen ihre Produktpalette derzeit unter die Lupe und untersuchen, was autonomes Fahren und Carsharing für sie bedeuten“, berichtet Jonas Nietschke, Digitial Evangelist bei Consulting4Drive. „Dabei versuchen sie, bestehende Fahrzeugkonzepte an die neuen Anforderungen anzupassen. Aus unserer Sicht führt das nicht zum optimalen Ergebnis für den Nutzer: Speziell für den Anwendungszweck des autonomen Fahrens und des Carsharings neu entwickelte Fahrzeuge würden sich in Design, Funktion und Fokus für flexible Lösungen stark von bestehenden Modellen unterscheiden.“

Insbesondere in der bevorstehenden Übergangszeit drohe den Platzhirschen Gefahr durch neue Wettbewerber, weil sie in dieser Phase häufig versuchen, mit klassischen Produkten zweigleisig unterwegs zu sein. Umso besser ist derjenige vorbereitet, der sich schon heute mit dem Interieur 2.0 beschäftigt.

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