Shared Mobility: Seit 15 Jahren in den Kinderschuhen – was fehlt zum Erwachsenwerden?

Timm Kellermann, Geschäftsführer von Consulting4Drive, zum Geschäftsmodell Shared Mobility

Das (bisherige) Geschätsmodell der Automobilindustrie konzentriert sich im Kern darauf, Fahrzeuge zu entwicklen und zu produzieren, um mit deren Verkauf bzw. Reparatur Geld zu verdienen. Analog dazu ist das Geschäftsmodell von Shared Mobility darauf fokussiert, Transportlösungen zu entwickeln, um mit den transportierten Fahrern oder Gästen Geld zu verdienen. Wenn wir beide Geschäftsmodellansätze nebeneinander, stellen ist eines augenscheinlich: Das erste Geschäftsmodell beschreibt eine Produktfirma, das zweite ein Dienstleistungsunternehmen.

Die Zahlen, Daten und Fakten (siehe unten) könnten den Eindruck erwecken, dass sich Carsharing klein, aber fein als zweites Geschäftsmodell in der Mobilitätsindustrie etabliert hat und erfolgreich wächst. Glauben Sie das? Haben Sie es ausprobiert? Spüren Sie Carsharing in Ihrem Leben? Wir sehen die Fahrzeuge in den wenigen Ballungszentren (stehen), aber bisher machen sie nur wenigen Menschen ihre individuelle Mobilität leichter. Warum ist das so?

Schauen wir auf das Naheliegende für Kunden: die Kosten. Nehmen wir für eine Beispielrechnung einen „regelmäßigen Wenigfahrer im Stadtgebiet“ mit einer Jahreskilometerleistung von 7.200 Kilometern an. Im Besitzmodell mit einem gebrauchten Fahrzeug der Kompaktklasse kann ein Kunde dies heute für ca. 180 bis 220 Euro Vollkosten inklusive Betriebskosten, Wartung und Abschreibung abbilden. Stellen wir uns vor, er wechselt komplett auf eines der aktuellen Carsharing-Angebote, so ergibt sich im günstigen Fall bei Kosten von 4,50 Euro je 15 Kilometer bei 20 Minuten Fahrt ein Monatsbetrag von 180 Euro. Sie können viele Varianten dieses Parametersets rechnen – am Ende steht die wiederkehrende Erkenntnis: Quantitativ betrachtet binden die heutigen Carsharing-Angebote ähnliche monatliche Budgets beim Nutzer wie das Besitzmodell.

Auf der „Vorteile“-Seite von Carsharing stehen: keine Kapitalbindung, Nutzbarkeit unter Umständen auch in anderen Städten, aufwandfreies Zahlen, kein Aufwand für Tanken, Reinigen, Warten und zum Teil erleichtertes Parken. Auf der „Nachteile“-Seiten stehen: mühsame, nicht digitalisierte Prozesse, Such- bzw. Reservierungsvorgang pro Fahrt, Fußweg/Wartezeit zum Fahrzeug und vor allem eingeschränktes Nutzungsgebiet. Aus den heutigen Carsharing-Angeboten ergeben sich für die Fahrer weder ein größerer Bequemlichkeitsvorteil noch ein signifikanter Kostenvorteil gegenüber dem Besitzmodell.

Attraktiv ist Carsharing für die Gruppe der Menschen, die bisher kein eigenes Fahrzeug besitzen und Carsharing als Premium-Erweiterung des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) erleben (sporadische Nutzer). Fahrzeugbesitzer empfinden die Aufgabe des Besitzes und den Wechsel zu reinem Carsharing bisher vielfach als bewusstes „Downgrading“ aus Umwelt- oder Vernunftgründen. Auf Basis dieser Erkenntnis fällt es schwer, den heutigen Carsharing-Konzepten ein schnelles oder exponentielles Wachstum zuzutrauen.

Was muss passieren, damit es zu dem flächendeckenden Erfolg von Shared Mobility kommt, von dem wir seit über zehn Jahren reden?

Bequemlichkeits- und Kostenvorteile sind in unserer Gesellschaft seit Langem wichtige Disruptionshebel. Ein Halbieren oder Vierteln der Kosten beim Carsharing ist ein Ziel, das wir für ambitioniert, aber perspektivisch machbar halten. Für Stadt-Vielfahrer wäre dies zum Beispiel eine Flatrate von ca. 80 Euro pro Monat, also äquivalent zu ÖPNV-Monatskarten für den Kernbereich.

Bevor wir in die selbst gewählte Denkblockade rutschen („Dies wollen die Kommunen doch gar nicht“), lassen Sie uns überlegen: Wie viele Fahrzeuge würden hierdurch dauerhaft von den Straßen und Parkplätzen der Städte verschwinden und damit Platz für alternative Mobilität machen?

Hinzukommen müssen maximale Bequemlichkeitsvorteile und einfache Prozesse für die Anmeldung, eine bessere Unterstützung bei der Fahrplanung, der Fahrzeugübernahme und -abgabe sowie eine verbesserte Abwicklungstransparenz. Und eine noch stärkere und globalere Zusammenarbeit mit den Kommunen hinsichtlich Fahrspurzugang, Parken und Laden/Tanken.

Wir kommen zu der Erkenntnis: Carsharing hat in einem deutlich weiterentwickelten Format tatsächlich Disruptionspotenzial. Aber es wird vermutlich weder Besitz von Fahrzeugen in der Stadt komplett substituieren noch den Erfolg von Uber-typischen Ride-Hailing-/Ride-Sharing-Angeboten bremsen. Wir leben in einer Sowohl-als-auch-Ökonomie, welche Angebote belohnt, die sich besonders kundenindividuell, multimodal einfach und kostenoptimal an die sehr unterschiedlichen Bedürfnisse der Menschen in der Stadt anpassen.

In der Konsequenz bedeutet dies: Wir glauben, dass Hersteller gut beraten sind, den Flottenbetrieb sowie die Weiterentwicklung des Carsharing-Geschäftsmodells mit höherem Eigenengagement durchzuführen. Warum? Um spezielle, für den phlegmatisierten, hochautomatisierten Dauerbetrieb innerhalb der Stadtgrenze konstruierte Fahrzeuge zu entwickeln, die über die Gesamtlebensdauer so gut wie keine Wartung außer der Innenraumerneuerung benötigen. Heute verwenden wir für Carsharing unsere für den Besitz entwickelten Fahrzeuge.

Hersteller sind Fahrzeugentwickler, aber ohne intimes Flottenbetreiberverständnis fällt die Entwicklung eines Portfolios von Carsharing-Fahrzeugen schwer. Zumal bezüglich der Stückzahlen nur ca. ein Zehntel der Fahrzeuge benötigt wird und Performance-Indikatoren nun „Deckungsbeitrag pro geleistetem Kundentransportkilometer“ sowie „Gesamtkundenwert im Lebenszyklus“ sind. Sobald ein unabhängiger Flottenbetreiber das detaillierte Verständnis erlangt, wie er spezielle Carsharing-Fahrzeuge konstruiert haben möchte, ist ein dienstleistungsorientierter Auftragsfertiger ein attraktiverer Partner als ein etablierter Großhersteller.

Carsharing erreicht unseres Erachtens den nächsten Geschäftsmodellreifegrad, sobald Fahrzeugentwicklungskompetenz, Flottenbetreiberwissen und die Entschlossenheit zusammenkommen, mit den Ballungsräumen dieser Welt stärker als bisher über Fahrspur-, Anhalte- und Ladeprivilegien zu verhandeln. Carsharing wird dann zum attraktiven und ernsthaften Geschäftsmodell für Anbieter, weil mit den oben skizzierten Mehrwerten für fast jeden Menschen in einem Ballungsraum ein Vorteil in seinem individuellen Mobilitätsbedarf entsteht.

Zahlen, Daten, Fakten zur Carsharing-Situation heute:

In Deutschland boten 2016 ca. 150 Unternehmen Carsharing mit ca. 17.000 Fahrzeugen an. Anfang 2017 waren 1,7 Mio. Menschen für Sharing-Dienste registriert, ein Plus von 36 Prozent gegenüber dem Vorjahr (Quelle: Orange by Handelsblatt 2017). Für Nordamerika sind die Zahlen (2015) ähnlich: 1,5 Mio. User, 22.000 Fahrzeuge. Weltweit wird der Carsharing-Bestand auf ca. 105.000 Fahrzeuge geschätzt. Zum Vergleich: Ende 2015 waren weltweit 947 Mio. Fahrzeuge der Pkw-Kategorie zugelassen und 335 Mio. Nutzfahrzeuge (Quelle: Statista 2017).

Die größten Anbieter sind car2go (14.000 weltweit, 3.700 Fahrzeuge in Deutschland), Sixt (5.700 Fahrzeuge), Flinkster (4.000 Fahrzeuge), stadtmobil (3.800) und Cambio (2.500).

Die Kosten für eine 20-minütige Fahrt von ca. 15 Kilometern liegen bei den genannten Anbietern zwischen 4,50 Euro und knapp 7 Euro. Nach inoffiziellen Aussagen beträgt die durchschnittliche Einsatzzeit eines Fahrzeugs aktuell weniger als 2,7 Stunden pro Tag bzw. drei bis sieben Kunden und fokussiert sich stark auf die Rushhour-Zeiten morgens und spätnachmittags sowie deutlich geringer auch mittags. Einige der genannten Unternehmen geben an, profitabel zu arbeiten, stellen hierüber allerdings keine Detailkennzahlen zur Verfügung.

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