Smart Engineering for Smart Mobility: Raus aus der Komfortzone

Die Automobilindustrie steht vor ihren größten Herausforderungen – mit massiven Auswirkungen auf den Entwicklungsprozess. Unser Engineering muss sich anpassen und smarter werden. Nur wer das schnell für sich umsetzt, wird künftig bestehen. Aber was genau verbirgt sich hinter dem Begriff „Smart Engineering“?

Zunächst einmal ist Smart Engineering die Voraussetzung für etwas, woran kein Weg vorbeiführt: Smart Mobility. Der Smog in den Städten, der Klimawandel, eine überlastete Infrastruktur, der Flächenverbrauch und die Vision Zero erzeugen großen Druck weg von der individuellen urbanen Mobilität und hin zu neuen Formen wie Sharing oder Pooling. Natürlich bilden auch hier letztlich Fahrzeuge das Rückgrat der Mobilität – aber ihre Steuerung macht den Unterschied und die Mobilität „smart“. Darunter verstehen wir ein intelligentes System, das Menschen und Güter effizient und möglichst nachhaltig bewegt. Emissionsarme und wirtschaftliche Antriebstechnologien sind selbstverständlich Pflicht.

Einzelne Komponenten und die Betrachtung der Gesamtzusammenhänge

Für Smart Mobility brauchen wir Smart Engineering. Ich verstehe darunter einen modernen, digital unterstützten Entwicklungsprozess für eine intelligente, vernetzte Mobilität. Um dorthin zu gelangen, reicht es nicht, sich einfach das „Smartphone auf Rädern“ zu wünschen. Vielmehr ist eine gezielte Analyse aller Komponenten und Systeme entlang der gesamten Wertschöpfungskette nötig.

Wir müssen also lernen, nicht nur Fahrzeuge zu betrachten, sondern auch deren spätere Betreiber und Passagiere. So erfordert die Nutzung eines bedarfsgesteuerten Shuttles nicht nur ein Fahrzeug auf dem aktuellen Stand der Technik, sondern auch eine Buchungsplattform und einen Betreiber mit entsprechender Logistikplanung. Auch eine Einbindung der Kommunen, des ÖPNV und der lokalen Energieversorger für die Bereitstellung der Ladeinfrastruktur ist nötig. Das Beispiel zeigt: Die Anforderungen aller Stakeholder wollen mitbedacht sein – von Anfang an.

Das ist neu für unsere Branche. Und darum gibt es im Engineering derzeit auch keine Systeme, mit denen wir die gesamte Wertschöpfungskette abdecken können. Wir sind schon gut darin, Fahrzeuge oder Flotten zu betrachten – aber die Kette der Stakeholder ist länger geworden. Sie müssen in den Entwicklungsprozessen künftig auch „eine Stimme bekommen“. Als interdisziplinärer Ansatz für die Entwicklung und Umsetzung komplexer technischer Systeme und Projekte wurde in den 1960er Jahren das „Systems Engineering“ eingeführt. Es beruht auf der Annahme, dass ein System mit Blick auf seine Funktionalität mehr ist als die Summe seiner Subsysteme. Der Entwicklungsfokus sollte damals auf die Betrachtung der Gesamtzusammenhänge gelegt werden.

»Smart Engineering: Das ist eine grundlegende Transformation unserer Denkweise in der Entwicklung.«

Stefan Schmidt — IAV Bereichsleiter Project Management Office

Während klassische Methoden des Systems Engineerings dokumentenbasiert sind, ermöglicht Model-Based Systems Engineering (MBSE) als Weiterführung der Idee ein Entwicklungskonzept, das auf die Integration von Modellen entlang des Systemlebenszyklus setzt. MBSE basiert insbesondere auf entwicklungsphasen-spezifischen digitalen Systemmodellen, die entlang des Produktentwicklungsprozesses erstellt und integriert werden. So lässt sich ein vollständiges System modellieren, das den gesamten Entwicklungsprozess begleitet und alle Modellelemente beinhaltet. Dabei leiten die Entwickler aus den Kundenanforderungen ab, was exakt die richtigen Werkzeuge für deren Bedürfnisse sind. Sie werden dann mithilfe verschiedener Modelle auf unterschiedlichen Abstraktionsebenen beschrieben. Eine Herausforderung ist die Durchgängigkeit der Daten sowie die Vermeidung von Medienbrüchen und Doppeleingaben.

Für jeden Datenpunkt den „Single Point of Truth“

Bei IAV sind wir gerade dabei, eine solche neue Engineering-Plattform aufzusetzen. Sie wird diesen gesamtheitlichen Ansatz unterstützen, indem wir beispielsweise alle Produktfeatures in strukturierter Form behandeln und es für jeden Datenpunkt einen „Single Point of Truth“ gibt.

Unsere neue Engineering-Plattform wird das Fundament für zahlreiche bewährte Domänen-Tools bilden, die wir längs des Entwicklungsprozesses einsetzen. Je nach Gewerk nutzen wir beim Smart Engineering auch die neuesten Methoden wie Virtual und Augmented Reality und Künstliche Intelligenz sowie agile Arbeitsweisen.

Neben der Technik sind bei dieser Transformation aber vor allem die Mitarbeiter und ihre Qualifikationen entscheidend. Sie müssen eine gemeinsame Sprache sprechen und sich auf einen abgestimmten Entwicklungsprozess stützen. Smart Engineering wird auch neue Rollen beinhalten, zum Beispiel den Systemarchitekten, den Requirement-Engineer oder den Systems-Engineer. Im Rahmen unserer strategischen Personalplanung definieren wir diese Rollen. Und in unserem Digital Lab können IAV-Mitarbeiter sich mit den Anforderungen des Smart Engineerings bereits früh vertraut machen.

Smart Engineering: Das ist eine grundlegende Transformation unserer Denkweise in der Entwicklung. Das neue Paradigma erfordert große Anstrengungen und kreatives Denken – jetzt. Denn es ist die einzige Möglichkeit, den komplexen Herausforderungen der Smart Mobility auch in Zukunft gewachsen zu sein. Dabei geht es nicht darum, jedem Mode-Trend oder Buzzword zu folgen, sondern auf Basis fundierter Analysen gezielt neue Wege zu gehen. Mit anderen Worten: Wer auch in den nächsten Jahren relevant bleiben möchte, muss jetzt raus aus der Komfortzone.

Der Artikel erschien in der automotion 01/2020, dem Automotive Engineering-Fachmagazin von IAV. Hier können Sie die automotion kostenfrei bestellen.

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