Transfer-Learning hebt digitale Entwicklung auf ein neues Level

Fahrzeug-Komponenten werden immer komplexer, die Autos immer individueller und zugleich intelligenter. Einer der größten Treiber: die stetig wachsende Zahl an Fahrassistenzsystemen. Mit der steigenden Anzahl an Systemen, Modellen und Kombinationen nimmt auch der Aufwand in der Fahrzeugentwicklung zu. Deshalb forscht IAV intensiv an einem vielversprechenden Lösungsansatz, dem sogenannten Transfer-Learning.

Ein durchschnittlicher Pkw besteht heute aus rund 10.000 Einzelteilen. All diese Komponenten müssen zueinanderpassen. Der Abstimmungsprozess jedoch ist kosten- und zeitintensiv. Welche Toleranzen weisen einzelne Bauteile, Systeme oder Elemente des Antriebsstrangs auf? Wie verhalten sie sich im Betrieb unter Volllast? Ab welchem Kilometerstand müssen sie ersetzt werden? Um Fragen wie diese zu beantworten, sind in der Fahrzeugkonzeption und -entwicklung Unmengen an Daten erforderlich, die teils aufwendig erhoben werden müssen.

Transfer Learning hebt digitale Entwicklung auf ein neues Level

10- bis 100fache Datenreduktion mittels Transfer-Learning

Das Klassifizieren von Millionen Bildern zum Training einer Künstlichen Intelligenz (KI) für Assistenzsysteme gehört zu den eher einfachen Aufgaben. Teurer und aufwendiger wird es, sobald die Entwickler bei jeder neuen Datenerhebung auf geschultes Fachpersonal oder sogar die Zerstörung der untersuchten Teile zur Ermittlung von Lastgrenzen und Dauerfestigkeit angewiesen sind. „Der Kunde findet es natürlich nicht gut, wenn man den ­Versuchsträger mehrfach beschädigt “, beschreibt Tilman Krokotsch, Deep Learning Engineer bei IAV, das Dilemma. „Das treibt die Projektkosten in die Höhe. Deshalb transferieren wir Erkenntnisse von abgeschlossenen Projekten mittels KI auf neue Anwendungsfälle.“

Möglich wird dies durch Transfer-Learning, eine Lösung, um den datengetriebenen Entwicklungsaufwand künftig zu reduzieren. Im ersten Schritt suchen die Ingenieure nach einem ähnlichen „Problem“, zu dem bereits Werte und Lösungen vorliegen – dem sogenannten Ausgangsproblem.

„Beim Transfer-Learning können wir ein KI-Modell, das bereits auf dem Ausgangsproblem trainiert ist, auf ein neues Zielproblem übertragen. Dadurch sind zum Antrainieren der KI auf das neue Problem wesentlich weniger Daten erforderlich, als wenn wir wieder ganz am Anfang starten“, erklärt Krokotsch.

Ein Beispiel für diesen Transfer sind bereits bekannte Turbolader, die in einen neuen Motor integriert werden sollen. „Hier kann Transfer-Learning recht einfach sein“, sagt der Doktorand. „Bei IAV hätte eine KI für dieses Bauteil und seine Lebenserwartung in Kombination mit dem bereits bekannten Motor schon ein grobes Verschleißmodell des Bauteils erlernt, und das müsste nur mit einigen zusätzlichen Daten auf die neuen Betriebsbedingungen des neuen Motors angepasst werden.“

«Der Grundgedanke des Transfer-Learning ist, dass das einzelne Projekt zwar nicht genügend Daten hat, um bekannte Lösungsansätze datengetrieben auf verwandte Probleme zu übertragen, die Projekte in der Gesamtheit aber eben schon.»

Tilman Krokotsch — Deep Learning Engineer bei IAV

Transfer-Learning in der Praxis spart Zeit und Kosten

Durch eine sukzessive Übertragung des Transfer-­Learning-Ansatzes von der Theorie in die Praxis können mehrere Fachgebiete profitieren, so zum Beispiel Predictive Maintenance – also die vorausschauende Instandhaltung, bei der Messdaten in Echtzeit Hinweise liefern, ob und wann eine Wartung oder Reparatur erforderlich ist. Je mehr Projekte und je mehr Daten, desto besser. „Der Grundgedanke des Transfer-Learning ist, dass das einzelne Projekt zwar nicht genügend Daten hat, um bekannte Lösungsansätze datengetrieben auf verwandte Probleme zu übertragen, die Projekte in der Gesamtheit aber eben schon“, erläutert Krokotsch.

Auch für die Programmierung und Auslegung von Assistenzsystemen bietet Transfer-Learning einen Mehrwert. Zu Beginn der Entwicklungsphase durchlaufen Assistenzsysteme Simulationen. Durch die zunehmende Vernetzung verschiedener Assistenzsysteme und Komponenten ist dieses Training ein arbeitsintensiver Prozess, allerdings ist die Simulation eine zuverlässige und kostengünstige Datenquelle. Im weiteren Verlauf sind Praxistests der neuen Assistenzsysteme erforderlich. Mittels Transfer-Learning kann mit verhältnismäßig wenigen zusätzlichen Daten der Sprung von der Simulation auf die Straße erfolgen.

„Insgesamt gibt uns die datengetriebene Entwicklung Werkzeuge an die Hand, um noch präziser und agiler arbeiten zu können“, ist Krokotsch sicher. „Wir sparen für unsere Kunden Zeit und Kosten in der Entwicklung, denn einen digitalen Motor über den Grenzbereich hinaus zu fordern, ist leichter und ressourcenschonender, als dies bei einem echten Aggregat eines OEMs zu tun.“

Komplettes Potenzial noch nicht ausgeschöpft

IAV profitiert bei der schrittweisen Anwendung des Transfer-Learning von branchenübergreifenden Erfahrungen, wie im Energiesektor, und kann die Methode auf eine Vielzahl von Use Cases überführen. „Wir arbeiten auf mehreren Ebenen daran, dieses Konzept in unsere Prozesse zu integrieren und weiterzuentwickeln“, sagt Krokotsch. Aktuell werden bestehende KI-Modelle überwiegend auf dem Ausgangsproblem sehr ähnlicher Zielprobleme nachtrainiert, da dieser Transfer weniger zusätzliche Daten erfordert. Zudem ist so das Risiko eines „negative transfer“ geringer, das heißt eines logischen Fehlschlusses der KI aufgrund des Transfers vom Ausgangsproblem auf das Zielproblem.

«Es geht um Empowerment – mit der Transfer-Learning-Methode wollen wir den Kolleginnen und Kollegen neue Werkzeuge an die Hand geben, um unsere Engineering-Leistungen für unsere Kunden stetig weiter zu verbessern.»

Tilman Krokotsch — Deep Learning Engineer bei IAV

Bisher wird fast ausschließlich homogenes Transfer-Learning angewendet, bei dem die Input-Daten die gleichen Messgrößen beinhalten. Solche Input-Daten können zum Beispiel RGB-Bilder sein, welche sich aus den drei Grundfarben Rot, Grün und Blau zusammensetzen. Will man nun ein solches dreikanaliges RGB-Bild auf einkanaliges Infrarot übertragen, spricht man vom heterogenen Transfer-Learning. Dies liegt ebenfalls vor, wenn man ein bereits entwickeltes Modell von einem Ausgangsmotor auf einen neuen Zielmotor überträgt, der jedoch über andere Sensoren verfügt. Sobald für heterogenes Transfer-Learning eine ausreichend hohe Prozesssicherheit vorliegt, nehmen auch die mit der Methode einhergehenden Optimierungspotenziale weiter zu.

Die Ergebnisse aus Praxistests mit echten Modellen und die Erfahrung der Ingenieure und Applikateure kann und soll das Transfer-Learning jedoch nicht ersetzen. „Erst durch das Fachwissen und den Input des Applikateurs können wir das volle Potenzial des Transfer-Learnings vollständig erschließen. Er sagt uns, was das System gerade tut oder wie man es gestalten kann“, verdeutlicht Krokotsch. „Es geht um Empowerment – mit der Transfer-Learning-Methode wollen wir den Kolleginnen und Kollegen neue Werkzeuge an die Hand geben, um unsere Engineering-Leistungen für unsere Kunden stetig weiter zu verbessern.“

Der Artikel erschien in der automotion 03/2020, dem Automotive Engineering-Fachmagazin von IAV. Hier können Sie die automotion kostenfrei bestellen.

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