Wir definieren German Engineering neu

Unsere Autos entwickeln sich vom mobilen Gebrauchsgegenstand zu digitalen Multitalenten. Sie wissen, wer im Fahrzeug Platz nimmt und welche Sitzeinstellung die Insassen bevorzugen, kennen den kürzesten Weg zum Supermarkt des Vertrauens und können selbstständig den Strom an der Ladesäule bezahlen. Gleichzeitig stellt der Weg zum software defined verhicle die Automobilbranche vor zahlreiche Herausforderungen, sowohl die OEMs als auch die Entwicklungsdienstleister. Wir haben Cariad CEO Dirk Hilgenberg und IAV CEO Matthias Kratzsch zu den neuesten Entwicklungen in den Bereichen Software, autonome Fahrfunktionen und Cyber Security befragt.

Welche Strategien wenden die Hersteller derzeit an, um den Sprung hin zum software defined vehicle rechtzeitig zu schaffen?

Dirk Hilgenberg: Wir alle in der Branche haben erkannt, dass unsere Kund:innen neue Anforderungen an uns haben. Sie
werden sich auch in den kommenden Jahren weiter verändern, wenn wir etwa an autonome Fahrfunktionen denken. Unser oberstes Ziel ist natürlich, die Ansprüche unserer Kund:innen zu erfüllen und zu übertreffen. Im Volkswagen Konzern haben wir entschieden, dass diese Veränderung zukünftig nur nachhaltig möglich ist, wenn wir einen hohen Anteil der Software selbst entwickeln, immer mit dem Ziel, den Kund:innen unserer Marken wettbewerbsdifferenzierende Funktionen in den Fahrzeugen bieten zu können.

Matthias Kratzsch: Die Anstrengungen der Hersteller eigene Organisationseinheiten aufzubauen und die Entwicklung von Softwarelösungen inhouse voranzutreiben, ist aber auch mit gigantischen Investitionssummen verbunden. Sie haben realisiert, dass es nicht mehr reicht, allein „Autobauer“ zu sein. Um die Schlüsseltechnologie Software zu meistern und sich die neuen Geschäftsfelder zu erschließen, ist es unverzichtbar für die OEMs, eigene Digitalangebote zu schaffen und ihre Fahrzeuge optimal an diese Services anzukoppeln. Wir sehen derzeit, dass viele Hersteller dafür nach individuellen technologischen und auch organisatorischen Lösungen suchen, was den Entwicklungs- und Integrationsaufwand erhöht. Wenn die Hersteller sich die richtigen Entwicklungspartner suchen, können die vor uns liegenden Aufgaben gemeinsam bewältigt und das hohe Investitionsvolumen zusammen gestemmt werden.

Inwieweit ist dann die Entwicklung eines OEM.OS für die einzelnen OEMs überhaupt sinnvoll?

Hilgenberg: Natürlich könnte man sich dazu entscheiden, Lösungen von externen Lieferanten zuzukaufen. Damit würde man sich Zeit und Aufwand in der Eigenentwicklung sparen. Aber im nächsten Schritt wäre man dann untrennbar an dieses externe System gebunden, mit allen oft unterschätzten Integrationsaufwänden, die das mit sich bringt. Wir haben uns bei Cariad und dem Volkswagen Konzern dazu entschieden, die Hoheit über zentrale, strategische Kontrollpunkte, von der eigenen Softwareplattform und Elektronikarchitektur bis hin zur Cloud, zu behalten. Wir definieren German Engineering neu: durch German Software Engineering. Wir legen fest, was wir selbst entwickeln und was wir einbetten. Allein schon in Bereichen wie Over-the-Air-Updates, Security, Diagnose, Monitoring und Logging benötigt man eine durchgängige Softwarelösung –anstatt diese Funktionen redundant in verschiedenen Ausprägungen zu implementieren.

«Wir definieren German Engineering neu: durch German Software Engineering. Wir legen fest, was wir selbst entwickeln und was wir einbetten.»

Dirk Hilgenberg — CEO von Cariad

Welchen Einfluss hat das Aufkommen von OEM.OS auf die Strategie von IAV?

Kratzsch: Für IAV ist es von strategischer Bedeutung, dass wir an der Entwicklung der OEM.OS partizipieren, die Technologie mitentwickeln und liefern. Der technische Fortschritt wird in den nächsten Jahren neue, auch OEM-übergreifende Standards bringen, etwa im Bereich Cyber Security. Das bedeutet mehr Komplexität.

«IAV als Tech Solution Provider macht diese Komplexität beherrschbar. Wir bieten ganzheitliche Softwarelösungen, vom ersten Konzept, bis zur serienreifen Entwicklungsstufe.»

Matthias Kratzsch — CEO von IAV

Dabei endet unsere Verantwortung keineswegs bei der Markteinführung, sondern geht weit darüber hinaus, etwa beim Thema Digital Lifecyclemanagement in Form von Over-the-Air Updates. Wir werden in und um die OEM. OS eigene Lösungen entwickeln und liefern, so dass Mobilitätsprojekte leichter zu integrieren und an den Start zu bringen sind. Reale Tests und Prototypen sind ein weiterer Kostentreiber, insofern sind wir bereits dabei Prototypen und Absicherungen in die Cloud auszulagern. Ein weiterer Punkt, der für unsere Services spricht, ist hierbei auch unser Know-how bezüglich der übergreifenden und teils marktspezifischen Standards solcher Lösungen. Hier können wir informieren, koordinieren und den Austausch mit den zuständigen Behörden beschleunigen.

Ein Beispiel für solche Standards sind die UNECE 155/156 und ISO 21434/24089. Welche Lösungsstrategien sehen Sie und welche Rolle spielen für Sie dabei Software-Update-Managementsysteme?

Hilgenberg: Die UNECE-Regulierungen setzen wichtige Impulse für die gesamte Automobilbranche, um Standards für die Security-Aspekte zu implementieren – ähnlich den Regelungen im Bereich Safety. Unser Verständnis von nachhaltiger Security geht allerdings über die wichtige Basis von UNECE und ISO hinaus. Dafür orientieren wir uns stark an den Entwicklungen im IT-Security-Bereich, etwa Endpoint Detection & Response Tools. Wir entwickeln für unsere Fahrzeugarchitekturen Produkte, die es neben der Erkennung von Anomalien auch ermöglichen, entsprechende Analysen und Reaktionen vorzunehmen. Im Fokus steht für uns, die Fahrer:innen bestmöglich vor Angriffen zu schützen. Das Software-Update-Management ist ein hilfreiches Tool für uns, um Schwachstellen, welche Angriffe ermöglichen, für die gesamte Fahrzeugflotte wesentlich schneller als bisher zu schließen.

Kratzsch: Das hier bereits angesprochene Security Monitoring wird künftig zur gesetzlichen Pflicht über den gesamten Lifecycle des Fahrzeugs. Deshalb haben wir bei IAV das Automotive Cyber Defense Center (ACDC) entwickelt, das Anomalien und Angriffe auf einzelne Fahrzeuge, die Streckeninfrastruktur oder Cloudservices frühzeitig erkennt und Gegenmaßnahmen ergreifen kann. Diese Lösung kann etwa für Kleinserien-, Flottenbetreiber und Inselmobilitätsstrukturen zum Einsatz kommen. So erfüllen sie die gesetzlichen Anforderungen und können von unserem Know-how aus den OEM-Lösungen profitieren.

Da wir bereits über künftige Anforderungen sprechen, wo sehen Sie die Industrie in den Bereichen OEM.OS, autonome Fahrfunktionen und Cyber Security im Jahr 2030?

Hilgenberg: Mobilität wird sich im kommenden Jahrzehnt fundamental verändern. Individuell genutzte Fahrzeuge bleiben auch 2030 das führende Transportmittel. Viele von ihnen werden bereits automatisiert fahren, zumindest in festgelegten Bereichen, einige auch autonom. Es ist daher entscheidend, dass Fahrzeuge untereinander gut vernetzt sind. Allein bei Cariad erwarten wir, dass bis 2030 bis zu 40 Millionen Fahrzeuge an die Volkswagen Automotive Cloud angeschlossen sein werden. Fahrzeugsoftware und ihre Sicherheit spielen 2030 also eine zentrale Rolle, noch stärker als heute schon. Sie werden ein völlig neuer Werttreiber für die Automobilbranche.

Kratzsch: Die Entwicklungsgeschwindigkeit und der Technologiefortschritt, wie wir ihn bereits heute beobachten, ist immens und so hoch wie nie. Ich erwarte, dass es durch den steigenden Kostendruck in der Fahrzeugentwicklung und Produktion und für die Sicherung von Marktanteilen zu einer Marktkonsolidierung kommt. Mehrere Mobilitätsanbieter werden gemeinsame HAD oder OS Lösungen/Plattformen nutzen, wie wir es auch schon beim HandyOS und den Handymarktplätzen sehen. Für diesen Prozess braucht es einen koordinierenden Player, der die Thematik technisch vollumfänglich durchdringt und das Zusammenspiel der verschiedenen Technologien und Akteure versteht. Diese Rolle wird IAV einnehmen. Wir sind für diese Herausforderungen sehr gut aufgestellt und entwickeln in beiden Feldern (Autonome Fahrsysteme und Security) bereits seit mehr als 15 Jahren erfolgreich Engineering-Lösungen.