Die Supernase

Beduftungssysteme sind aus Fahrzeugen der Oberklasse nicht mehr wegzudenken. Bislang steht für die Entwicklung dezenter Düfte in Fahrzeugen jedoch nur die menschliche Nase zur Verfügung. Das neue mobile „Schnüffellabor“ von IAV ermöglicht nun objektive und reproduzierbare Messungen in Echtzeit. Und eine schnellere Applikation.

Düfte wirken unmittelbar auf unser Gehirn. Durch die direkte neuronale Verbindung zwischen Riechzellen und Erinnerungszentrum lassen uns Gerüche sofort an Vergangenes denken. Zudem setzen sie neurochemische Stoffe wie Endorphine oder Serotonin frei. Kein Wunder also, dass Mediziner:innen Duftstoffe für die Aromatherapie nutzen und manche Händler:innen sie beim „Marketing mit Duft“ zur Verkaufsförderung oder Markenbindung einsetzen.

Die durchschlagende psychologische Wirkung von Düften ist auch den Fahrzeugherstellern nicht verborgen geblieben und so sind Beduftungssysteme heute im oberen Segment bereits als Sonderausstattung erhältlich. „Sie sollen die Behaglichkeit und den Komfort erhöhen, außerdem kann der OEM damit die Wertigkeit eines Fahrzeugs betonen“, berichtet Thomas Einzinger, der bei IAV die Abteilung Thermal Management leitet und sich gemeinsam mit seinen Mitarbeiter:innen auch mit der Luft im Fahrzeuginnenraum beschäftigt.

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Bei Audi können Passagier:innen beispielsweise zwischen den Duftstoffen „Winter“ und „Sommer“ wählen, außerdem lässt sich die Intensität in den vier Stufen Subtil, Leicht, Mittel und Stark einstellen. Die Duftstoffe befinden sich in zwei Flakons unter dem Lenkrad und werden über die Ausströmer im Innenraum verteilt. Komponiert wurden sie von weltbekannten Parfümspezialist:innen in der südfranzösischen Kleinstadt Grasse, dem Sitz mehrerer französischer Parfümhersteller.

IAV hat bereits OEMs bei der Entwicklung solcher Beduftungssysteme unterstützt. Bei der Applikation kamen bisher die Nasen der Ingenieur:innen als Messinstrument zum Einsatz. Sie waren der Maßstab, um zu entscheiden, wann eine Dosierung beispielsweise noch als „leicht“ und wann sie schon als „mittel“ zu gelten hat. Diese Methode ist allerdings eher subjektiv und liefert keine objektiven Messwerte.

Genauigkeit im PPM-Bereich

Deshalb hat das Team von Thomas Einzinger eine neue Messmethode für die Applikation von Beduftungssystemen entwickelt. Das mobile „Schnüffellabor“ von IAV ist etwa so groß wie ein Desktop-Computer, saugt die Luft am Ausströmer an und liefert seine Messwerte an einen angeschlossenen Rechner. So kann der Sensor in seinem Inneren den Entwickler:innen mit großer Präzision verraten, wie hoch der Anteil der Duftmoleküle an der Innenraumluft ist (in ppm – parts per million).

 

 

«Die Messungen werden quantifizier- und reproduzierbar. Außerdem liefert unser neues Messsystem alle Werte in Echtzeit und somit im zeitlichen Verlauf, was die Applikation spürbar beschleunigt.»

Dominik Fellner — Teamleiter System Development

Welche Duftkonzentration der Einstellung „leicht“ oder „mittel“ entspricht, bleibt damit nicht mehr (nur) den Nasen der Applikateur:innen überlassen.

Das hochempfindliche mobile Schnüffellabor entstand im Rahmen einer IAV-Eigenentwicklung – seit April 2021 ist das Gerät einsatzbereit. Die genaue Messmethode wollen Einzinger und Fellner nicht verraten – nur so viel: Der Sensor ist ein hochempfindliches Messmittel aus dem chemischen Laborbetrieb und wurde in ein Gesamtmesskonzept integriert, das optimal an die Anforderungen der Fahrzeugentwicklung angepasst ist. Außerdem nutzen die Expert:innen die Methode Design of Experiments (DoE), um die Zahl der erforderlichen Messungen zu minimieren.

Universell einsetzbar in allen Verkehrsmitteln

Künftig könnten Beduftungssysteme als Sonderausstattung auch Einzug in Fahrzeuge unterhalb der Premiumklasse halten. Und in Kombination mit der Augenerkennung könnten sie beispielsweise Düfte gezielt für die Steuerung der Stimmung der Fahrer:innen einsetzen. „Wir sehen aber auch Einsatzmöglichkeiten in anderen Bereichen, etwa in Bussen, Zügen, Schiffen oder in Flugzeugen“, so Einzinger.

Mit Blick auf die Zukunft ergeben sich beim autonomen Fahren in Verbindung mit einer kontinuierlichen Standortbestimmung und KI-Methodik völlig neue Ansätze. Ein zukünftiges System könnte selbstlernend sein und beispielsweise beim Fahrer:innenwechsel und bei der Einfahrt in ein Ballungszentrum mit schlechter Außenluft sich automatisch beduftend anpassen.

Auch könnten beim autonomen Fahren, beispielsweise durch ein Waldgebiet, entsprechende Naturdüfte eingespeist werden. Ebenso vorstellbar ist, sich autonom fahren zu lassen, dabei einen Film zu schauen und die Actionszenen im Film mit Düften passend zu untermalen, sodass nicht ein 2- oder 3D-Erlebnis entsteht, sondern ein 4D-Fahrerlebnis.

«Die USPs der zukünftig angebotenen Fahrzeuge werden sich nicht mehr nur an der Qualität und Leistung des Antriebsstrangs orientieren, sondern an Komfort- oder Erlebnismerkmalen beim Aufenthalt im jeweiligen Fahrzeug. Hierzu wollen wir etwas beitragen.»

Thomas Einzinger — Abteilungsleiter Thermal Management bei IAV

Die Supernase von IAV steht jedenfalls schon für neue Anwendungsfälle bereit.

Der Artikel erschien in der automotion 03/2021, dem Automotive Engineering-Fachmagazin von IAV. Hier können Sie die automotion kostenfrei bestellen.

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