„IAV ist keine Commodity-Bude, IAV ist ein Original.“

Das Rennen um die digitale Poleposition in der Automobilbranche ist in vollem Gange. Die ­zentrale Rolle für die Mobilität von morgen spielt die Software. Wie lässt sich mit dem stetig steigenden Innovationstempo und Akteuren wie Google oder Amazon umgehen? Markus Blonn, Fachbereichsleiter Network Software bei IAV, über einen Markt in Bewegung, alte Rückfahrkameras und Mut zum Risiko.

Markus Blomm

Markus Blonn setzt sich für agilere Prozesse in der Softwareentwicklung ein. Nur wer mit Mut zum Risiko Entwicklung rechtzeitig in den Markt gibt, kann mit der Innovationsdynamik mithalten und sie mitgestalten.

automotion: Herr Blonn, auf welchem Stand ist die Softwareentwicklung im Auto heute?

Moderne Autos beinhalten heute rund 100 Millionen Software-Codezeilen – etwa viermal so viel wie bei Kampfjets. In der Vergangenheit haben wir Embedded-Steuersysteme verwendet, die ein Volumen von 4 MB hatten, mittlerweile stehen wir bei etwa 40 GB. Zudem sind nicht mehr statische, sondern dynamische 64-Bit-Architekturen Stand der Technik, die es ermöglichen, Softwareupdates Over-the-Air aufzuspielen. Im Vergleich dazu fühlt sich die Softwareentwicklung für ein Rückfahrkamerasystem von vor zehn Jahren an wie die Programmierung in Assembler.

automotion: Welche Veränderungen hat das für den Markt gebracht?

Software ist zu dem entscheidenden Faktor geworden, um das Bedürfnis der Kunden nach nachhaltiger und vernetzter Mobilität zu erfüllen. Dabei bleibt sie unsichtbar: Für den Kunden ist die Software dann gut, wenn die Services funktionieren, die sie liefert, und die Security zuverlässig ist. Wir denken Software nicht mehr nur im Fahrzeug, sondern in einer vernetzten Welt. Die Mobilität von morgen wird durch skalierbare Services bestimmt. Damit solche Cloud- oder On-Premise-Anwendungen reibungslos funktionieren, ist eine IT-Infrastruktur mit entsprechenden Rechen- und Speicherkapazitäten ebenso notwendig wie die Beachtung gesetzlicher Anforderungen an Datenschutz und Datensicherheit.

automotion: Und wie kann IAV dabei unterstützen?

Markus Bloom Portrait

«IAV ist sehr gut darin, komplexe physikalische Problemstellungen in Softwarelösungen zu überführen.»

Markus Blonn — Fachbereichsleiter Network Software bei IAV

Inhaltlich sind wir zudem mit der Umsetzung der UNECE-Regelung für Softwareupdates und Security auf einem guten Weg, die Distributionskette von der Anforderung bis hin zum Testing und darüber hinaus zu schließen. Das Themenfeld technische Compliance haben wir integriert und erfüllen Automotive-SPICE-Level-2-Standards mit qualifizierten Toolketten. Dadurch haben wir beim Thema Cyber Security weniger Einfallstore für Hackerangriffe und Systemfehler, um die wir uns kümmern müssen. So entwickeln wir handwerklich hochqualitative Software für End-to-End-Funktionen. Bei Fahrzeugzugangssystemen können wir unsere Stärke aus der Embedded- und aus der IT-Welt bündeln.

automotion: Gefühlt will inzwischen jeder OEM seine eigene Software und sein eigenes Betriebssystem selbst entwickeln – was kommt da auf uns zu?

Es gilt tatsächlich: Wer das Monopol über die Technologie hat, behält die Hoheit über alle digitalen Dienste und Kundendaten. Trotzdem wird nicht jeder Konzern ein eigenes Betriebssystem entwickeln. Ich rechne damit, dass wir mindestens zwei Betriebssysteme aus den USA sehen werden. Android ist ein Kandidat. Im chinesischen Raum erwarte ich einen ähnlichen Schritt, alleine schon deshalb, weil der Markt anderen Regeln, z. B. bei Privacy und Security, folgt. Und auch in Europa rechne ich damit, dass sich ein oder zwei Betriebssysteme durchsetzen. Die Chancen dafür stehen gut, auch weil das Entwicklungstempo hierzulande deutlich angezogen hat.

automotion: Braucht es einen Partner wie IAV denn überhaupt noch, wenn OEMs zu Softwarehäusern werden?

Was unsere Rolle betrifft, zählen für mich zwei Punkte. Zum einen sind wir sehr gut darin, Funktionen zu entwickeln, Anforderungen gemeinsam mit Kunden zu definieren, serienreife Lösungen zu schaffen und sie in das Fahrzeug zu integrieren. Wir haben frühzeitig auf den Wandel in der Automobilindustrie reagiert, unsere Lösungen können so rechtzeitig und zuverlässig auf dem Markt starten, egal ob es dabei um Connectivity-Themen, Autonomes Fahren, moderne Antriebsstränge, Testverfahren oder die Absicherung geht. Zweitens haben wir uns stärker auf Dienste konzentriert und können beispielsweise Software-as-a-Service-Lösungen anbieten, für die wir die Verantwortung übernehmen. Hier können wir auch selbstbewusst sagen:

«IAV ist keine Commodity-Bude, IAV ist ein Original. Dem müssen wir treu bleiben und auch in Zukunft unsere Dienstleistungen entsprechend den Marktbedürfnissen anpassen und weiterentwickeln.»

Markus Blonn — Fachbereichsleiter Network Software bei IAV

Wie bereits erwähnt, wandeln sich Mobilitätsservices aktuell so stark wie nie zuvor. Auch hier sind wir dran, entsprechende Dienste und Lösungen mit unseren Kunden zu schaffen.

automotion: Und wo muss IAV noch nachlegen?

Bei der Geschwindigkeit: Wir müssen Software noch schneller entwickeln, natürlich ohne Kompromisse bei der Zuverlässigkeit und Sicherheit. Das erreichen wir, indem wir den Entwicklungsprozess weiter automatisieren und stärker in Netzwerken denken, um unsere Softwarekompetenz weiter zu erhöhen. Wir haben ein internes Qualifikationsprogramm, das sich an den Technologieentwicklungen am Markt und somit zukunftssicher an der Software orientiert. Was uns auch hilft, sind enge Verbindungen zur Wissenschaft. Wir sind Mitglied im Softwarecampus des Bundesministeriums für Bildung und Forschung und helfen mit, die nächste Führungsgeneration in der Softwareentwicklung mit auszubilden. Wir haben auch einige Partnerprojekte mit Universitäten. Beispielsweise mit der Hochschule Mittweida, der FAU Erlangen-Nürnberg zu einem Open-Source-Projekt und der Universität Oldenburg zum Thema Architekturen. Da sind wir auf dem richtigen Weg.

automotion: Warum ist gerade dieser Austausch mit der Wissenschaft so wichtig?

Er verschafft uns IT- und Softwareexpertise von außen. Kollegen mit Studenten zusammenbringen, mit Ausgründungen von TUs oder Start-ups, die innovative Themen umsetzen, gemeinsam neue Prototypen an den Start bringen – das hilft, die eigene Innovationskultur weiterzuentwickeln. Wir haben eine umfassende Expertise bei der Serienreife und einen hohen Qualitätsanspruch. Letzterer bedeutet aber auch, dass es bisweilen zu lange braucht, um Konzepte in den Markt zu geben und mit Kunden weiterzuentwickeln. Hier können wir uns etwas von der Wirtschaftskultur des Silicon Valley abschauen und mehr Risikobereitschaft wagen. Auch wenn das bedeutet, dass man mit einer Idee mal scheitert.

automotion: Stichwort Silicon Valley: Was machen Digitalunternehmen wie Amazon oder Google anders als die Vertreter der klassischen Automobilbranche?

Es gibt aktuell noch zwei verschiedene Ansätze, Silicon Valley vs. Europa oder anders formuliert:

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«Datacenter vs. Fahrzeug. Google, Amazon und Co. verfolgen den Ansatz eines Datacenters, das Auto ist für sie nur Mittel zum Zweck.»

Markus Blonn — Fachbereichsleiter Network Software bei IAV

Sie entwickeln Software, das Auto bietet sich für diese Unternehmen als eine weitere Vertriebsplattform an, deshalb bauen sie das Fahrzeug um die Software herum, denn die Software steht im Mittelpunkt.

Wir in Europa denken hingegen noch Fahrzeugzentriert. Mit dem Datacenter-Ansatz kann das Fahrzeug als digitaler Flaschenhals aber deutlich geweitet werden. Viele Rechenprozesse kann man mittlerweile unabhängig vom Auto durchführen, gerade von der 5G-Technologie erwarten wir ein enormes Potenzial auf diesem Gebiet. Über die Schnittstelle im Fahrzeug können höhere Datenraten übertragen und neue Features im Backend ausgeführt werden, wodurch wir über die Laufzeit des Fahrzeugs einen länger anhaltenden Mehrwert für den Kunden erreichen. Funktionen und Services können so leichter implementiert, ausgeführt und aktualisiert werden. Ein wichtiger Vorteil, denn: Die Lösungen bestehen aus Software, das Geschäftsmodell ist jedoch der Service.

Der Artikel erschien in der automotion 01/2021, dem Automotive Engineering-Fachmagazin von IAV. Hier können Sie die automotion kostenfrei bestellen.

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